Zwischen Vanilleeis und Coronaimpfstoff: acatech HORIZONTE diskutiert die Chancen und Herausforderungen der Biotechnologie
München, 21. Februar 2022
Biologie und Technologie – zwei ungleiche Partner, die zusammen das Potenzial haben, Gesundheit zu fördern und Lösungen für zentrale Herausforderungen der Menschheit zu finden. Biologische Prozesse verstehen und mit diesem Wissen Produkte herzustellen ist ein Erfolgsfaktor. Neben Wissenschaft und Wirtschaft spielen Politik und Gesellschaft aber eine ebenso entscheidende Rolle, damit die Biotechnologie ihr Potenzial tatsächlich entfalten und der Standort Deutschland davon profitieren kann. Wie groß dieses Potenzial ist, zeigt jetzt die neue Ausgabe der acatech HORIZONTE.
Biotechnologie ist eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Die Verbindung von Technologie und biologischem Wissen ermöglicht rasante Fortschritte in der Medizin, in der Ernährung und in der industriellen Produktion. Sie leistet einen Beitrag in Umwelt- und Klimaschutz und befördert die Transformation unseres Wirtschaftssystems hin zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft.
Biotechnologie in der Medizin – Fortschritt mit angezogener Handbremse
Ohne Biotechnologie und Gentechnik gäbe es heute keine Coronaimpfstoffe, sind sich die acatech HORIZONTE Expertinnen und Experten einig. Biotechnologische Methoden sind an der Entstehung nahezu aller Arzneimittel beteiligt, die heute auf den Markt kommen. Sie finden Anwendung bei der Erforschung der Krankheitsursachen über zugrunde liegende Gene bis hin zur Medikamentenproduktion mithilfe von Enzymen oder Bakterien. Die Impfstoffentwicklung offenbart aber auch eine Schwachstelle im heutigen System: die gesetzlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine Finanzierung von innovativen, aber kostenintensiven Methoden in ausreichender Höhe und ein schnelles Zulassungsverfahren sind heute die Ausnahme und nicht die Regel. Das erschwert zum einen Patientinnen und Patienten den Zugang zu neuen Behandlungsmethoden, die nicht nur Leben retten, sondern potenziell auch das Gesundheitssystem entlasten könnten. Zum anderen vergehen Jahre, bis sich eine Investition für den Geldgeber bezahlt machen kann. Das macht Investitionen in Biotechnologie unattraktiv.
Die Entwicklung der mRNA-Technologie hat nicht nur einen Durchbruch im Kampf gegen Corona gebracht. Sie könnte in Form von Gentherapie beispielsweise bald auch dafür sorgen, Krebserkrankungen ihren Schrecken zu nehmen. Voraussetzung dafür: ein Gesundheitssystem, das individualisierte Therapien zulässt, und eine Gesellschaft, die offen über Vor- und Nachteile diskutiert und eine Vision entwickelt, was künftig wünschenswert und möglich sein soll und was nicht.
Es braucht einen neuen Dialog über Biotechnologie in der Ernährung
Anders als in der Medizin ist Biotechnologie in der Nahrungsmittelproduktion nicht neu. Die Biotechnologie entwickelte sich schon vor Jahrtausenden aus der Beobachtung natürlicher Vorgänge. Menschen haben sich das Wissen zunutze gemacht, um Nahrungsmittel zu veredeln oder haltbar zu machen, Brot, Sauerkraut oder Wein herzustellen, und das Wissen im Laufe der Jahre in optimierte, moderne Produktionsverfahren überführt. Trotzdem haben Menschen oft den Eindruck, dass mit Hilfe von biotechnologischen Verfahren hergestellte Nahrungsmittel „künstlich“ sind, eine Einschätzung, die die Umstellung auf eine nachhaltige, umwelt- und ressourcenschondende Ernährung für eine wachsende Weltbevölkerung deutlich erschweren kann – und die im Dialog hinterfragt werden muss.
„Neunzig Prozent unserer Lebensmittel sind schon mit Gentechnik in Berührung gekommen“, erklären die HORIZONTE Expertinnen und Experten. Auch ohne das Wissen um die biologischen Prozesse nutzen Menschen schon lange zufällige Mutationen, um durch Selektion und Züchtung gezielt Ertrag und Geschmack von Nahrungsmitteln zu beeinflussen. Die heute möglichen gezielten gentechnischen Veränderungen können auch eingesetzt werden, um zentrale Herausforderungen der Klimakrise wie Dürre oder Überflutungen zu lösen oder die Umwelt nachhaltig zu schützen – wenn die Gesellschaft dies will und die Politik die entsprechenden Weichen stellt.
Biotechnologie kann dem Menschen auch helfen, den erst in den letzten hundert Jahren rasant gestiegenen Fleischkonsum zu reduzieren, indem sie sich den antrainierten Geschmack für Fleisch beim Umstieg auf eine pflanzenbasierte Ernährung zunutze macht – und auf entsprechende Eigenschaften von Pflanzen und Pilzen setzt. Damit gewinnt auch die Diskussion um im Labor hergestelltes Fleisch eine völlig neue Dynamik.
Potenziale erkennen
Biotechnologie ist eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, die ihr Potenzial erst noch ausspielen muss. Die acatech HORIZONTE hat in vielen Bereichen die Möglichkeiten nur angerissen. Eine entscheidende Rolle spielt die Biotechnologie beispielsweise auch bei der Nahrungsmittelsicherheit, der Biomasseproduktion und der Kohlenstoffspeicherung: Mithilfe von Bakterien, Enzymen und Pilzen lässt sich nicht nur den Nährstoffgehalt von Böden verbessern, ohne dabei die Umwelt zu schädigen, sondern auch die Wasser- und Kohlenstoffspeicherfähigkeit erhöhen. In der Industrie können durch den Einsatz biotechnologischer Methoden und Prozesse neue, umwelt- und ressourcenschonende Materialien oder Brennstoffe ohne fossile Rohstoffe entwickelt werden – und Materialien effizient recycelt werden.
Die Expertinnen und Experten der acatech HORIZONTE um Andrea Büttner (FAU Nürnberg-Erlangen / Fraunhofer IVV, acatech Mitglied) sind überzeugt, dass ein offener Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft der Politik den Weg weisen kann, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit aus Spitzenforschung schnell marktführende Produkte und Anwendungen entstehen, die das Potenzial für Gesundheit, Ernährung, die industrielle Produktion und Umwelt- und Klimaschutz ausschöpfen.
Über acatech HORIZONTE
Die acatech HORIZONTE unterstützen die gesellschaftliche Diskussion über die Anwendungs- und Gestaltungsmöglichkeiten neuer Technologien. Jede Ausgabe ist einem Technikfeld gewidmet, das neue Horizonte eröffnet, wirtschaftlich bedeutend ist und gesellschaftlichen Wandel ermöglicht. Diese Technikfelder bereiten die acatech HORIZONTE auf – fundiert, anschaulich und auf dem neuesten Stand der Forschung. Sie klären die Faktenbasis und nehmen gesellschaftliche, volkswirtschaftliche und politische Fragen sowie Gestaltungsoptionen in den Blick.
Weiterführende Informationen
Pressemappe zur Veröffentlichung der acatech HORIZONTE Biotechnologie
Antworten der Expert:innen auf Fragen, die die acatech HORIZONTE Biotechnologie so nicht stellt, finden Sie im HORIZONTE logbuch.