Möglichkeiten und Herausforderungen von 4D-Materialien
München, 30. Juni 2022
Wir leben in einer Welt dreidimensionaler Gegenstände. Nimmt man als vierte Dimension die Zeit hinzu, kann man von 4D-Materialien sprechen: Durch einen externen Stimulus, zum Beispiel Temperatur oder elektrische Felder, verändern diese Materialsysteme ihre Eigenschaften und Struktur. Implantate, Membranen, Greifhandschuhe oder selbstentfaltbare Sonnensegel sind mögliche Anwendungen. Bei acatech am Dienstag am 28. Juni sprachen die Referierenden über mögliche Anwendungen, Entwicklung und Herstellung solcher 4D-Materialien.
acatech Präsident Jan Wörner beschrieb in seiner Begrüßungspräsentation, wie bei 4D-Materialien, -Strukturen und -Systemen durch externe Einflüsse wie zum Beispiel Temperatur, Feuchtigkeit, pH-Wert, Licht oder Strahlung eine Funktion stimuliert und idealerweise mehrfach wiederholt werden kann. acatech Präsidiumsmitglied und Moderator Christoph Leyens, vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik, referierte anschließend über die Entstehung des Begriffs 4D-Materialien und die Ziele, die mit der Entwicklung dieser Materialien verfolgt werden. Geforscht werde bereits an Materialien oder Materialverbundsystemen, die kontrollierbare Eigenschaftsveränderung erfahren – ausgelöst durch einen externen Stimulus – und dabei die vierte Dimension, d.h. die Zeit, berücksichtigen. So können Struktureinheiten mit Eigenschaftsveränderungen verkoppelt werden, was zu steuerbaren Bauteilen und „intelligenten“ Systemen führen kann. Beispiele für solche Materialien sind Formgedächtnis-Legierungen, die verformbar sind, bei Erwärmung aber immer ihre ursprüngliche Form wieder annehmen.
Innovationen in den Materialwissenschaften für Anwendungen in der Medizin
Exemplarisch für verschiedene Anwendungsbereiche zeigte acatech Mitglied Katja Schenke-Layland, Direktorin am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut der Universität Tübingen in Reutlingen, Beispiele aus der personalisierten, individuellen, regenerativen Medizin auf. Das Konzept komme ursprünglich aus dem Tissue Engineering – ein Überbegriff für die künstliche Herstellung biologischer Gewebe durch die gerichtete Kultivierung von Zellen. Krankes Gewebe kann mit diesem Verfahren bei einer Patientin oder einem Patienten ersetzt oder regeneriert werden. Genauer: Man entnimmt Zellen, vermehrt sie und erhält, wenn man auf Human-basierte In-vitro-Modelle fokussiert, 3D-Systeme, d.h. Biomaterialien. Aus der Kultur von Zellen und Biomaterialien können dann beispielsweise Implantate für die Patientin, den Patienten hergestellt werden.
Humanbasierte In-vitro-Systeme, erklärte Katja Schenke-Layland weiter, sorgten darüber hinaus für eine verbesserte Diagnostik und eine verbesserte Austestung und Entwicklung von Medikamenten. Natürliche extrazelluläre Matrix als Biomaterial werde bereits seit Jahrzehnten in Kliniken als Knorpel- und Hautimplantat eingesetzt. Erst durch die Funktionalisierung würden 3D-Materialien zu 4D-Materialien. Als Beispiel nannte sie Zellen, die mit Materialien kombiniert werden, Oberflächenmodifikationen und Time Release Funktionen. Bei diesen Time Release Funktionen werden Elemente mit dem Material verbunden, die dann durch Änderung der Temperatur oder des PH-Wertes im Körper freigesetzt werden, um so die Heilung und Regeneration des Gewebes voranzutreiben. Katja Schenke-Layland betonte abschließend, dass 4D-Materialien sehr innovative Möglichkeiten für die Biomedizin bieten.
4D-Textilien
acatech Mitglied Thomas Gries, Lehrstuhlinhaber für Textilmaschinenbau der RWTH Aachen, stellte in seinem Beitrag 4D-Materialien aus dem Textilbereich vor – sogennante 4D-Textilien. Inspirieren lassen habe er sich dabei vom 3D-Druck sowie von der Bionik: Die Natur sei Vorbild, weil sie sich unter anderem viele solcher Materialkombinationen – das heißt aus Membranen und Versteifungen – zu Nutze macht. Er verwies auf ein Beispiel aus dem Bereich der Soft-Robotik: ein Handschuh als mechanischer Verstärker und Greifunterstützung für ältere Menschen. Hergestellt werden die Strukturen mittels 3D-Druck auf vorgespanntes Textil. Daraus entstehen bi-stabile Strukturen, die durch äußere Impulse ihre Form ändern können. Ein wichtiger Forschungsbereich ist hier außerdem der Herstellungsprozess, da nur durch verlässliche Prozesse auch dauerfeste 4D-Textilien hergestellt werden können. Er stellte roboter-gestützte Produktionsprozesse vor, die eine Skalierung auch in den Architekturbereich ermöglichen würden.
In der anschließenden Diskussion wurde ersichtlich, dass das Thema hinsichtlich Anwendung und Wirtschaftlichkeit noch am Anfang steht. Soft-Robotik kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Es bedarf einer interdisziplinären Zusammenarbeit – von der Materialforschung, der Datenbereitstellung (Simulation), der Fertigungstechnik bis hin zu Rechts- und Gestaltungsfragen.