Daten freigeben für KI in der Medizin – eine Frage des Gemeinwohls?

München, 17. Juni 2024
Nie war die Vermessung unserer Gesundheit so einfach: Wearables, Smartwatches und Apps sowie umfangreiche Messungen in Krankenhäusern liefern Unmengen von Daten. Ein Großteil davon bleibt jedoch ungenutzt, obwohl sie unsere Gesundheitsversorgung verbessern könnten. Denn Künstliche Intelligenz (KI) kann Krankheitsbilder erkennen, Diagnosen präzisieren, die Wirksamkeit von Medikamenten überwachen und personalisierte Therapien vorschlagen. Bisher besteht in der Bevölkerung große Skepsis, die eigen Daten dafür freizugeben. Das zeigt auch das TechnikRadar 2022. Gemeinsam mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften stellte acatech am Dienstag in den Räumen der BAdW in München diese Datenfrage am 4. Juni zur Diskussion. Fachleute, Betroffene und Interessierte erörterten, ob das Teilen von Gesundheitsdaten eine Frage des Gemeinwohls sei, und ob dem Schutz persönlicher Gesundheitsdaten eine Pflicht zur Solidarität gegenüberstehe.
Matthias Tschöp, CEO und Wissenschaftlicher Geschäftsführer von Helmholtz Munich, wies in seiner Begrüßung auf die enormen Potenziale von KI für die klinische Forschung und die Grundlagenforschung hin. Um die Medizin und Gesundheitsversorgung durch Entwicklung und Einsatz von KI zu verbessern, müsse der Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdaten gewährleistet sein – stets unter Wahrung der Datensicherheit. Leider blieben aktuell aber noch viele Gesundheitsdaten ungenutzt, beschrieb Matthias Tschöp die aktuelle Herausforderung für die Forschung.
Gemeinwohl, Solidarität und die Frage: Gesundheit schützen oder Daten schützen?
In seinem Impuls stellte Dirk Heckmann, Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung, Technische Universität München, eine große Bereitschaft in der Gesellschaft fest, etwas für das Gemeinwohl zu leisten. Das zeige die Vielzahl von Geld- und Sachspenden sowie Blut- und Organspenden. Es sei heutzutage bereits möglich, Krankheitsbilder durch den Einsatz von KI (beispielsweise bei der Bilderkennung im Hautkrebsscreening) frühzeitiger zu erkennen und Patienten durch eine schnellere und gezieltere Versorgung damit sogar das Leben zu retten. Vor diesem Hintergrund stellte er dem Publikum die Frage, unter welchen Umständen jede und jeder Einzelne bereit wäre, die eigenen Gesundheitsdaten zu spenden. Der Bedarf sei vorhanden: Neben der Menge und der Qualität der Daten sei es sehr wichtig, mit repräsentativen und verknüpfbaren Daten aus der echten Versorgung zu arbeiten. Bei der Sammlung von Gesundheitsdaten müsse immer der Gesundheitsschutz gegenüber dem Datenschutz abgewogen werden, betonte Dirk Heckmann. Insbesondere bei sensiblen Gesundheitsdaten sei es entscheidend, diese freiwillig zur Verfügung zu stellen.
Seine Botschaft: Solidarität ist das Fundament unseres Gesundheitssystems. Vertrauen ist die Voraussetzung für gemeinwohlorientierte Datennutzung, weshalb Maßnahmen nötig seien, die dieses Vertrauen schaffen. KI in der Medizin könne nicht funktionieren, wenn die Daten fehlen, um diese KI zu trainieren. Wer von einem solidarischen Gesundheitssystem profitieren möchte, müsse sich mit dessen Voraussetzungen befassen. Opt-out-Lösungen zur Gesundheitsdatennutzung – also der Ansatz, dass die Zustimmung zunächst vorausgesetzt wird, der aktive Widerspruch aber immer möglich ist – seien zumutbar, fair und auch ethisch geboten.
Vertrauensvoll informieren und Freiwilligkeit gewährleisten
In der anschließenden Diskussionsrunde betonte Claudia Ritter-Rupp, 2. Stv. Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, die Wichtigkeit guter Forschung für die Medizin, damit Ärzte ihren Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen lassen können, und stellte die Perspektive der Ärzteschaft dar: Für diese steht der Patient mit seinen individuellen Anliegen im Mittelpunkt. KI kann hier in der Diagnostik durchaus hilfreich sein, allerdings kann diese den direkten Kontakt zu Ärzten beziehungsweise Psychotherapeuten niemals ersetzen. Die Digitalisierung in den Praxen ist bisher wegen schlechter Rahmenbedingungen, wie unzureichender Interoperabilität, fehlender Datenstandards oder schlecht funktionierender IT-Systeme, noch nicht flächendeckend umgesetzt. Von entscheidender Bedeutung für einen positiven Behandlungsverlauf sei das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten – dieses dürfe nicht durch Eingriffe Dritter gefährdet werden. Deshalb müssten hohe Sicherheitsstandards im Umgang mit den Daten und der genutzten Infrastruktur garantiert werden, da das Schadenspotenzial groß sei. Dabei sei auch zu beachten, dass der Gesetzgeber das bisher gültige Prinzip einer informierten Einwilligung und somit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten in eine Widerspruchsmöglichkeit umwandeln wolle. Es brauche daher eine Informationskampagne zur elektronischen Patientenakte und über die Nutzung der individuellen Gesundheitsdaten zur Forschung. Jeder Patient muss für sich – gut informiert – eine Entscheidung treffen können, die auf Freiwilligkeit basiert.
Dauerhafte Datenfreigabe statt einmaliger Datenspende?
Den Begriff der Datenspende halte er für unglücklich gewählt, erklärte Stefan Vilsmeier, Gründer und CEO der Brainlab AG. Dieser sei zu oft mit Verlust und Abgabe verbunden. Von „Datenfreigabe“ zu sprechen, passe besser, da die geteilten Daten sich nicht verbrauchen. Außerdem betone es die aktive Möglichkeit, als Patientin oder Patient den Prozess selbst zu beeinflussen. Der medizinische Fortschritt sei sehr stark auf forschende Unternehmen angewiesen. Deshalb sollten die Gesundheitsdaten auch der Industrie für Weiterentwicklungen zur Verfügung gestellt werden. Medizintechnik- und Pharmaunternehmen hätten sich an strenge Vorschriften zu halten, was auch nach Produktstart die Kontrolle der Daten sicherstelle. Diese langfristige Sicherheit sei essenziell für das Vertrauen in die Entwicklung datenbasierter Anwendungen. Wichtig sei auch die Zusammenarbeit von Industrie, klinischer Forschung und Grundlagenforschung. Es reiche nicht aus, Daten einmalig zu besorgen, Daten sollten kontinuierlich verfügbar sein. Die Patienten müssten sich daher überlegen, welche Daten sie weitergeben möchten und sicher wissen, dass sie die Freigabe jederzeit widerrufen können. Aktuell fehle aus seiner Sicht dazu noch die Infrastruktur. Den Patienten müsse man in den Mittelpunkt stellen. Er erkenne hier einen Generationenvertrag: Durch die Daten von heute helfen wir den Menschen von morgen, so Stefan Vilsmeier.
Patientenzentriert digitalisieren, Vorteile erlebbar machen
In seiner Keynote erklärte Winfried Brechmann, Amtschef im Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention, die bayerische Staatsregierung setze auf KI als „Game Changer“, denn Digitalisierung sei die Zukunft. Er verwies auf die besondere Bedeutung von Gesundheitsdaten und das Ziel in innovative Technologien zu investieren. Voraussetzung dafür sei eine patientenzentrierte Digitalisierung im Gesundheitssystem. Die Vorteile der Digitalisierung müssten den Menschen vermittelt werden, die Vorteile der Digitalisierung erlebbar gemacht werden. Hierzu könne beispielsweise die Forschung an Universitätskliniken gestärkt werden, auch durch eine enge Verknüpfung mit Unternehmen. Denn in diesen sechs Klinken fallen bereits heute qualitativ äußerst hochwertige Daten zu vielfältigen und auch seltenen Krankheiten an, die nur noch verbunden werden müssten.
Die Abschlussdiskussion begann Moderatorin Anna Frey von der acatech Geschäftsstelle mit der Frage, ob die Potenziale von KI eine solidarische Pflicht zum Datenteilen rechtfertigen und ob aus gemeinwohlorientierten Gründen eine moralische Verpflichtung bestehe, die persönlichen Gesundheitsdaten zu teilen. Laut Stefan Vilsmeier könnten auch dann gute Ergebnisse erzielt werden, wenn nicht alle Menschen ihr Gesundheitsdaten teilen. Die Qualität der Daten sei entscheidender als die Quantität. Für Dirk Heckmann stellt das Teilen der Daten eine moralische, aber keine rechtliche Pflicht dar. Alle Vorteile des Gesundheitssystems zu nutzen, aber im Gegenzug keine Daten dafür zu spenden, sei keine Option. Einen sanften Zwang, sich mit dem Thema auseinandersetzen zu müssen – wie es die Einführung eines Opt-outs schafft – hält er deshalb für wichtig.
In der Schlussrunde kommentierten die Expertinnen und Experten die Frage, welcher Hebel im Umgang mit Gesundheitsdaten Ihrer Meinung das größte Verbesserungspotenzial hätte? Es komme darauf an, Vertrauen zu schaffen und die Technik in den Arztpraxen in den Griff zu bekommen, so Winfried Brechmann. Claudia Ritter-Rupp stimmte ihm zu, dass Vertrauen der Schlüssel zum Erfolg sei. Menschen würden nicht gerne bevormundet, Chancen müssten deutlicher aufgezeigt werden. Man müsse auf der Sachebene bleiben und trotzdem die Missbrauchsgefahr sehr gut regulieren. Stefan Vilsmeier sprach sich dafür aus, in Qualität und strukturierte Daten zu investieren. Denn wir müssten nicht die meisten, dafür aber die besten Daten haben. Dirk Heckmann sah den Stellhebel zum Erfolg in der Gesundheitsbildung und digitalen Bildung. Das versetze die Bevölkerung in die Lage, Chancen und Risiken richtig einzuschätzen.
Individueller und gesellschaftlicher Zugewinn
Das Schlusswort des Abends hatte acatech Präsident Jan Wörner. Er verglich die Datenspende mit der Organspende, die Leben retten kann. Im Hinblick auf Hoffnungen und Sorgen bezüglich KI in der Medizin verwies er auf eine lange Liste seltener Krankheiten, an denen ein nicht unbedeutender Teil der Menschen jährlich erkrankt. Seltene Krankheiten habe nicht jeder Arzt immer im Blick, um damit richtig umgehen zu können, so Jan Wörner. Deshalb seien sie für ihn ein Paradebeispiel dafür, wie hilfreich Datensammlung und Künstliche Intelligenz in der Medizin sein können. Auf eine Besonderheit der Datenspende ging er zum Schluss seines Vortrags ein: Bei der Datenspende verliert man nichts, sondern gewinnt etwas – für sich und für die Gesellschaft.
Einen Audiomitschnitt finden Sie auf der Seite der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.