Energiewende und Klimaschutz – Herausforderung und zugleich Chance für die deutsche Industrie?
München, 26. November 2024
Keine Woche ohne Hiobsbotschaften: Tausende Arbeitsplätze, ganze Standorte und zahlreiche Unternehmen stehen in Deutschland auf der Kippe. Steckt der Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft dahinter? Auch die Sprunghaftigkeit der Politik schlägt auf die Stimmung. Gleichzeitig rutscht das Land im Klimaschutz-Ranking ab. Wie müssen sich energieintensive Unternehmen aufstellen, wie wird eine neue Bundesregierung die Industriepolitik gestalten? Antworten auf diese und andere Fragen gaben die Experten bei acatech am Dienstag am 19. November 2024, das in Kooperation mit der Münchner Rück Stiftung stattfand und 140 Gäste vor Ort und 90 im Livestream erreichte.
Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet.
Das Video ist auf der Seite der Münchener Re Foundation zu sehen.
Die Ampelkoalition in Berlin ist auch deshalb gescheitert, weil sie keinen Weg gefunden hat, Wirtschaftswachstum und Klimaschutz in Einklang zu bringen. „Die Industrieproduktion ist seit 2018 um 13 Prozent gesunken, viele andere Wirtschaftsindikatoren befinden sich auf dem Niveau von vor der Corona-Krise“, ordnete Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und Präsidiumsmitglied von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, die Lage ein. Der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung drohe unter die Marke von 20 Prozent zu fallen, was Auswirkungen auf den Wohlstand habe. Denn Industriearbeitsplätze seien besonders gut bezahlt.
„Der Kaiser ist nackt“
„Wir tun uns schwer, global wettbewerbsfähig zu bleiben, und auch bei der Klimaneutralität erreichen wir die Ziele nicht“, führte Siegfried Russwurm weiter aus. Die ständig steigenden Energiekosten würden es den Unternehmen erschweren, ihre Investitionen verlässlich zu kalkulieren, so dass diese entweder gar nicht oder im attraktiveren Ausland getätigt würden. Die Erfolge vieler deutscher Unternehmen im Ausland zeigten, dass die Schwäche hierzulande nicht an mangelnder Innovationskraft liege, sondern an den Rahmenbedingungen. Russwurms Fazit: „Der Kaiser ist nackt, was seine wirtschafts- und klimapolitischen Erfolge angeht“.
„Die wirtschaftliche Schwäche rührt daher, dass der Standort nicht attraktiv genug ist“, stimmte Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung und Vizepräsident von acatech, zu. Denn die Ampel habe mit ihrer Betonung der sozialen Frage die Prioritäten falsch gesetzt und Zielkonflikte etwa im Bereich des demografischen Wandels und der Digitalisierung ignoriert. Zudem sei eine Interventionsspirale in Gang gesetzt worden, um die Entscheidungen von Unternehmen und Verbrauchern in die gewünschte Richtung zu lenken. „Der planwirtschaftliche Ansatz ist für mich der Kernfehler der Ampel. Mehr Marktwirtschaft ist der einzige Weg aus der jetzigen Situation“, zeigte sich Schmidt überzeugt.
Mut und Konsequenz nötig
„Es gibt keine Alternative zum Klimaschutz. Wir brauchen aber die richtigen Rahmenbedingungen, damit aus der Transformation auch ein Business Case wird“, forderte Christian Hartel, Vorstandsvorsitzender der Wacker Chemie AG. Gerade die chemische Industrie sei auf dem Weg zur Klimaneutralität darauf angewiesen, dass ausreichend bezahlbare erneuerbare Energie zur Verfügung stehe, was derzeit nicht der Fall sei. „Hier geht es um make it or break it“, stellte er klar und fügte hinzu: „Wir brauchen neben der richtigen Einstellung auch den Mut und die Konsequenz, den Weg zu gehen und dabei zu bleiben.“ Sein Wunsch an die Politik ist eine klare Vision für einen längeren Zeitraum, wohin wir wollen und welche Zwischenziele wir anstreben. „Es reicht nicht, nur auf die Klimaneutralität im Jahr 2045 zu verweisen“, so Hartel. Die Flucht ins kostengünstigere Ausland sei für sein Unternehmen keine Option. Denn der Anlagenpark von Wacker sei über Jahrzehnte gewachsen und in eine effiziente Verbundstruktur eingebunden. Bei der Planung neuer Anlagen sei Deutschland derzeit aber klar im Nachteil, weil niemand sagen könne, wohin die Reise gehe.
Dass die Deindustrialisierung bereits im Gange ist, zeigt sich laut Russwurm daran, dass die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland zurückgehen, während die Investitionen im Ausland ungebrochen sind. „Das sind zwar nur Vorboten der Entwicklung, aber wenn man es erst an den rückläufigen Industriezahlen sieht, ist es zu spät“, warnte er. Die Menschen würden den schleichenden Niedergang und den damit verbundenen Wohlstandsverlust bereits spüren. Die Industrie könne ihre Rolle als Wohlstandsmotor in den Bereichen Hochtechnologie und Produktion nur erfüllen, wenn sie verstärkt auf Innovationen setzt. Dass der Dienstleistungssektor allein die Lücke füllen wird, die die abwandernde Industrie hinterlässt, hält Russwurm für eine Illusion.
Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung in Deutschland ist bedroht. Um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, sind private und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro bis 2030 nötig. Es ist vor allem die Summe struktureller Probleme, die unseren Wirtschaftsstandort und seine Transformation ausbremst – deshalb sind kurzfristige Konjunkturprogramme keine Lösung. Eine stabile industrielle Basis braucht wettbewerbsfähige Energiepreise, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren und modernisierte Infrastrukturen. Es braucht jetzt den großen Wurf.
Siegfried Russwurm, BDI-Präsident | acatech Präsidium
Innovationsketten in Gefahr
Auch auf die Hoffnung, dass im Zuge der Transformation neue Industrien entstehen, sollte man besser nicht vertrauen, empfahl er. Denn dabei würden die vielfältigen Verflechtungen unterschätzt. „Zwei Drittel der energieintensiven Keramikindustrie hat nichts mit Tassen oder Tellern zu tun, sondern ist Hightech-Keramik, etwa für Medizintechnik, Flugzeugturbinen oder Energienetze. Wer auf die Keramikindustrie verzichtet, schneidet auch Innovationsketten ab“, so der Ökonom. Natürlich müsse man sich fragen, wie viele energieintensive Unternehmen Deutschland wirklich brauche. Dann müssten aber entsprechende Ersatzprodukte gefunden werden, die möglichst zur Qualifikationsstruktur der Menschen hierzulande passen.
„Ich halte akademische Planspiele für brandgefährlich und habe den Eindruck, dass in manchen Ökonomenkreisen geradezu eine Lust ausgebrochen ist, Deutschland vereinfacht als ein Unternehmen darzustellen“, bekräftigte Wacker-Chef Hartel. Die Wirtschaft bestehe aus einer Vielzahl von Unternehmen. Es sei ein Trugschluss zu glauben, man könne diese eng verflochtenen Lieferketten, die über Jahrzehnte gewachsen seien und sich gegenseitig befruchtet hätten, einfach auflösen.
Kreative Lösungen gefragt
„Die Transformation ist ein Kraftakt, deshalb sehe ich hier auch die Politik in der Pflicht, zum Beispiel mit einem speziellen Industriestrompreis.“ Sie müsse die Industrie für eine gewisse Zeit unterstützen, bis man, so Hartels Szenario, in den 2030er Jahren im Verbund mit Europa und dem Ausbau der erneuerbaren Energien wieder günstigere Strompreise habe. Auch wenn Deutschland bei der Erzeugung erneuerbarer Energien einen Nachteil gegenüber anderen Ländern habe, sei dies kein Grund, das bisher Erreichte aufzugeben und an günstigere Standorte abzuwandern. Vielmehr müsse an Konzepten gearbeitet werden, um die Wettbewerbsfähigkeit unter den hiesigen Bedingungen zu erhalten. „Ich vermisse in der Diskussion ein wenig die Kreativität, wie wir die neue Phase erfolgreich gestalten können“, kritisierte er.
„Der gescheiterte Industriestrompreis ist für mich das industriepolitische Pflaster, das ich auf die Symptome klebe, ohne die Ursachen zu bekämpfen“, entgegnete acatech Vizepräsident Schmidt. Er geht davon aus, dass der Strompreis relativ hoch bleiben wird, das sei auch die vorherrschende Meinung auf den Finanzmärkten. Der Fehler sei gewesen, einen Ausstieg ohne Einstieg zu planen, so dass Deutschland weiter auf Energieimporte angewiesen sein werde.
Auch die Hoffnung auf Wasserstoff als Energieträger der Zukunft sollte nicht überbewertet werden. „Es ist eines der am meisten gehypten Themen, das in naher Zukunft nicht zur Lösung der Probleme beitragen wird“, so Hartels Einschätzung. Die Bepreisung von CO2 sei in den kommenden Jahren viel wichtiger, um einen Beitrag zu den Klimazielen zu leisten. „Wasserstoff ist ein schönes Beispiel dafür, was man falsch machen kann“, ergänzte Russwurm. Denn in der EU sei nur jener Wasserstoff erwünscht, der mit grüner Energie erzeugt wird, anstatt übergangsweise auch Wasserstoff aus anderen Energiequellen zu fördern. Das wäre so, als würde man Elektroautos nur dann zulassen, wenn sie mit Strom aus der eigenen Solarzelle aufgeladen werden. Am Ende, so Russwurm, blieben Investitionen in Wasserstoffprojekte aus, weil sie sich nicht lohnten. Hinzu komme die schwerfällige Bürokratie als generelles Hindernis für Infrastrukturprojekte: „Wir schaffen es nicht, weil uns die Komplexität die Hände bindet.“
Rolle der Politik
Die Politik hat viele Stellschrauben, um die Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität zu unterstützen. Das Problem dabei: „Wir müssen damit umgehen, dass individuelle Akteure unsere Gesellschaft bestimmen und ihre Entscheidungen treffen. In deren Lebenswirklichkeit und nicht im Willen und der Vorstellung müssen wir die Transformation gemeinsam schaffen“, machte Schmidt deutlich. Der Staat könne zwar den Rahmen setzen, aber nicht durchregieren und dafür sorgen, dass sich alle an die Vorgaben halten. Das mache marktwirtschaftliche Ansätze so überlegen. „Wenn wir den Willen zu höheren CO2-Preisen hätten und diesen auch konsequent durchsetzen würden, könnten wir schneller vorankommen“, urteilte Schmidt.
Wir erleben eine Phase politischer Instabilität, wirtschaftlicher Stagnation und schrumpfender staatlicher Handlungsspielräume. Damit verschärfen sich die Spannungen zwischen Klimaschutz und industriellem Wachstum. Kleinteilige staatliche Eingriffe und engmaschige Regulierung lindern diesen Konflikt nicht, im Gegenteil. Die bessere Therapie wäre Loslassen: Klimaschutz und wirtschaftliches Wachstum lassen sich am besten über marktwirtschaftliche Mechanismen erreichen. Eine konsequente CO2-Bepreisung sollte deshalb gutgemeinte, aber nur begrenzt wirksame Einzelmaßnahmen ersetzen.
Christoph M. Schmidt, Präsident RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung | acatech Vizepräsident
Die neue Bundesregierung, wer auch immer sie bilden wird, steht vor einer großen Herausforderung. Sie muss die Rahmenbedingungen so setzen, dass die Industrie, das „Herz“ der deutschen Wirtschaft, international wieder wettbewerbsfähiger wird. Und sie darf neben den rein ökonomischen Aspekten die Belange der Ökologie und des Klimawandels nicht vernachlässigen, so war man sich auf dem Podium einig.
Der Beitrag wurde vom Kooperationspartner Munich Re Foundation verfasst und ebenfalls veröffentlicht.