Resilient durch Digitalisierung: Wie wir die aktuelle und künftige Krisen besser bewältigen. Ein Beitrag von Karl-Heinz Streibich

München/Berlin, 12. Mai 2020
Die aktuellen EXIT-Debatten führen in ein Dilemma: Wenn wir die gegenwärtigen Schutzmaßnahmen zu früh herunter fahren und eine zweite Pandemiewelle ausbricht, verschärfen wir die Krise. Klar ist aber auch, dass die Vollbremsung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens nicht lange durchzuhalten ist. Wir werden eine lange Phase der wachsamen Normalisierung durchlaufen, die erst mit der weltweiten und flächendeckenden Verfügbarkeit eines Impfstoffes endet. Um diese lange Phase möglichst unbeschadet zu meistern und auch für die Zukunft besser gerüstet zu sein, brauchen wir mehr Resilienz, mehr Widerstandsfähigkeit unserer Systeme: Durch Technik, vor allem durch Digitalisierung und durch kluge Anpassung unserer Systeme.
Warum Resilienz?
Resilienz ist die Fähigkeit von Systemen, in widrigen Ereignissen zu bestehen, also sie möglichst gut zu verkraften und sich ihnen immer erfolgreicher anzupassen. „Biegen und nicht brechen“, auf diese kurze Formel lässt sich Resilienz reduzieren. Wir haben bei acatech schon 2012 Resilienz als Sicherheitsparadigma des 21. Jahrhunderts definiert.
Auslöser von Krisen können wie gegenwärtig Krankheiten sein, aber auch Naturereignisse, (Cyber-)Kriminalität, Terrorismus und vieles mehr. Betroffen können Energiesysteme sein, Infrastrukturen, öffentliche Einrichtungen, aber auch Unternehmen und ihre Logistikketten. Weil schadhafte Ereignisse in unserer komplexen, arbeitsteiligen Welt wahrscheinlicher und unvorhersehbarer werden, verbessern anpassungsfähige, also resiliente Systeme statische Sicherheitskonzepte.
Von der Covid-Krise sind praktisch alle Bereiche des privaten, öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens betroffen. Resilienz ist in allen Bereichen gefragt. Das heißt: Jetzt, in der aktuellen Krise, brauchen wir eine höhere Resilienz unserer Systeme, doch wir brauchen sie auch für die Zukunft.
Digitalisierung verstärkt die Resilienz in allen Bereichen
Mehr denn je spüren wir in diesen schwierigen Tagen den Nutzen der Digitalisierung. Sie lässt uns mit dem notwendigen Social (Physical) Distancing besser zurechtkommen: weil wir privat und auch beruflich in Kontakt bleiben können, und weil wir viele Abläufe dank digitaler Hilfsmittel erledigen können. Dies gilt für die öffentliche Verwaltung als Dienstleister für hoheitliche Aufgaben, für das Aus- und Weiterbildungssystem eines Landes, von Schulen bis hin zu Universitäten; es gilt für die Medien und für die Kommunikationssysteme – und es gilt selbstredend für die Wirtschaft. Eine Krise zwingt uns immer, unser Handeln zu überdenken: Auch nach der Krise werden wir auf manche Dienstreise verzichten, online zusammenkommen und Homeoffice mit anderen Augen betrachten.
Schon in dem gegenwärtigen, frühen Stadium der Covid-Krise zeigt sich, dass digitale und digitalisierte Unternehmen nicht nur besser in der Krise zurechtkommen, sondern auch erheblich besser aus der Krise herausfinden werden. Unternehmen, die früh in Digitalisierung investiert haben, sind jetzt resilienter. Sie haben Möglichkeiten digitaler Zusammenarbeit von verschiedenen Orten aus eingeführt und erprobt, während sich andere nun ruckartig digitalisieren müssen. Sie haben ihre Produktions- und Wertschöpfungsprozesse durch einen digitalen Zwilling abgebildet, so dass sie sich jetzt viel besser auf die Einschränkungen und Veränderungen im Zuge der Pandemiebekämpfung einstellen können. Industrieunternehmen steuern ihre Produktionsanlagen automatisiert und nutzen Fernwartung, Lebensmittellogistiker haben die Kühlketten über Remote-Technologien im Blick.
Die gegenwärtige Krise hat die Erkenntnis über den Nutzen der Digitalisierung enorm beschleunigt, aber auch offengelegt, wie viel noch zu tun ist. Hier eine Auswahl von Beispielen:
- Es gibt Länder, die praktisch alle Bürgerservices digital abgebildet haben. Die Verwaltung bleibt somit auch in der Covid-Krise voll funktionsfähig. Auch eine Ergänzung des Wahlsystems durch sichere Online-Wahlen würde dieses Herzstück unserer Demokratie bereichern und resilienter machen. Deutschland ist noch nicht so weit. Unser Online-Zugangsgesetz (OZG) gibt die Richtung vor. Eine neue Priorisierung und Einführung der digitalen Anwendungen, einschließlich der erforderlichen gesetzlichen Anpassungsmaßnahmen, würde die Resilienz in diesem Bereich fundamental stärken. Die Grundlage digitaler Bürgerservices bilden sichere, in eine Breite akzeptierte Online-Identifikation, also die Einrichtung eines sicheren Identitäts-Providers in Deutschland beziehungsweise der EU oder eines interoperablen Standards gemäß EU-Datenschutz.
- Ob E-Learning-Plattformen oder Massive Open Online Courses, wir sind die Digitalisierung der Schulen, Universitäten und Ausbildungseinrichtungen in Deutschland eher zaghaft, halbherzig und spät angegangen. Nun digitalisieren unsere Bildungseinrichtungen in Eile ihre Klassenzimmer, müssen aber noch viel lernen, damit das auch effektiv ist.
- Wir brauchen für die Phase der wachsamen Normalisierung Transparenz über mögliche neue Ansteckungsherde, um die Ansteckungen zurückzuverfolgen und einzudämmen. Mobilitätsdaten sind hier der Schlüssel. Sie sind theoretisch verfügbar. Jedoch zeigt schon das Ringen um eine Corona-App, dass eine Governance, also eine vordefinierte Handlungsoption für den Ernstfall, fehlt. Wir müssen als Gesellschaft vereinbaren, wie wir Daten im Dienst der Gesundheit nutzen, ohne Bürgerrechte zu beschädigen.
- Wir spüren jetzt auch sehr deutlich, wie groß die Abhängigkeiten von Plattform- und Cloudanbietern außerhalb der EU bereits sind und wie dringend Europa Souveränität herstellen muss bei der Nutzung dieser Infrastrukturen – wohlgemerkt, nicht im Sinne von Abschottung sondern Souveränität im Sinne von Wahlfreiheit und der Möglichkeit, Privatheit sowie den Schutz von Daten und geistigem Eigentum bei der Nutzung.
Aus der Krise lernen
Die Beispiele zeigen, was wir auch in dem Impulspapier von acatech zur Corona-Krise vom 27. März betonen: Krisenmanagement ist ein lernendes System. Wir stellen gegenwärtig fest, wo wir gut aufgestellt sind, aber auch, wo unsere Systeme noch anfällig für Störungen sind. Entsprechend werden wir in den kommenden Wochen und Monaten immer mal wieder Rückschläge verkraften und nachsteuern müssen. Dieser Lernprozess wird unser System stärken und resilienter machen. Wenn wir dabei auch die weiteren wesentlichen Risikofaktoren jenseits der Corona-Pandemie wie zum Beispiel den Klimawandel mit berücksichtigen, sind wir resilienter auch für die Zukunft.
Karl-Heinz Streibich, Präsident acatech