Weltfrauentag: Geschlechterspezifische Perspektiven als Grundlage für wissenschaftlichen Fortschritt
München, 8. März 2022
Frauen müssen in der Biotechnologie stärker repräsentiert werden – als Forschende und auch als Forschungsgegenstand. Obwohl zwei Drittel der Studierenden in der Biologie Frauen sind, ist die die Frauenquote in den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Führungspositionen dennoch gering: Nur 27 Prozent der Professuren sind weiblich, der Anteil der Gründerinnen im Bereich Biotech liegt bei unter 15 Prozent, so fasst es die aktuelle Ausgabe der acatech HORIZONTE zusammen. Welche Chancen eine größere Perspektivenvielfalt bietet, erklären die Expertinnen der HORIZONTE-Arbeitsgruppe im Interview zum Weltfrauentag 2022.
Rund 60 Prozent der Studierenden in den Fächern Biologie und Biotechnologie ist laut Statistischem Bundesamt weiblich. Der Frauenanteil ist damit im Vergleich zu anderen Naturwissenschaften hoch. Anders sieht es in führenden Wissenschaftspositionen aus: Frauen haben einem Anteil von nur 27 Prozent der Biologieprofessuren an deutschen Universitäten. Das gleiche Muster lässt sich in der Wirtschaft erkennen. Der „Female Founders Report“, der für seine Studie Gründungsteams von 150.000 Unternehmensgründungen analysiert, kommt im Bereich „Biotechnologie und Medizin“ für das Jahr 2020 auf einen Frauenanteil von 14,8 Prozent.
Gleiche Zugangsbedingungen für eine wissenschaftliche Karriere
Biologie ist damit ein Paradebeispiel für das Phänomen der „Leaky Pipeline“, also für das „Heraustropfen“ von Frauen aus der Nachwuchspipeline für Führungskräfte in Wissenschaft und Wirtschaft. „Frauen sind schon am Beginn einer wissenschaftlichen Karriere benachteiligt, die auf der Anzahl von Veröffentlichung basiert,“ erklärt Martina Schraudner, Biologin und Professorin für Gender und Diversity in der Technik und Produktenwicklung an der Technischen Universität Berlin. Eine weltweite Untersuchung hat gezeigt, dass durch die Einschränkungen während der Corona Pandemie Frauen in der Alterskohorte zwischen 30 und 40, also in der Familienphase, im Vergleich deutlich weniger publiziert haben als ihre männlichen Kollegen. „Wer in der Anfangsphase der wissenschaftlichen Karriere ins Hintertreffen gerät, hat im aktuellen wissenschaftlichen System kaum eine Chance aufzuholen,“ so Schraudner. Ein System, dass allein auf ein Kriterium ausgerichtet Karrieren fördert, müsse sich hinterfragen lassen.
Wissenschaft braucht Perspektivenvielfalt
„Frauen muss der gleiche Zugang zu einer wissenschaftlichen Karriere ermöglicht werden, wie Männern“, fordert Martina Schraudner, und das nicht nur aus Gründen der Chancengleichheit. Die Leaky Pipeline hat nämlich weitreichende Konsequenzen. „Setzt die Wissenschaft – und die Wirtschaft – wirklich auf die besten Köpfe“, fragt Martina Schraudner. Schließlich sei davon auszugehen, dass Talent unter den Studentinnen und Studenten gleichmäßig verteilt sei. Gerade wenn es um Lösungsansätze für die akuten globalen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Klimakrise geht, sieht Martina Schraudner die Gefahr, dass Chancen verpasst werden. Mittlerweile belegten etliche Studien, dass Frauen sich weltweit mehr für Nachhaltigkeitsthemen interessieren und einsetzen als Männer. „Biotechnologie kann einen erheblichen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz leisten und Lösungsansätze für die nachhaltige Ernährung der Weltbevölkerung liefern. Hier auf die Perspektiven und das Engagement von Frauen zu verzichten, wäre grob fahrlässig,“ zeigt sich Schraudner überzeugt. Es müsse gelingen, das Interesse zu kanalisieren und mehr Chancen – auch mit und in anderen als den üblichen Ökosystemen im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit oder Circular Economy – zu eröffnen.
„Frauen in Führungspositionen und attraktive Finanzierungsmöglichkeiten für aufstrebende Unternehmen – an beidem mangelt es leider noch in der deutschen Biotech-Landschaft. Um das volle Innovationspotential der Biotechnologie auszuschöpfen, gilt es, das Kapitalmarktökosystem für die Branche zu stärken und Unternehmertum attraktiver zu machen, ganz besonders auch für Frauen“, stellt Viola Bronsema, Geschäftsführerin BIO Deutschland, fest. Laut Martina Schraudner hätten Frauen eine andere Motivation für Unternehmensgründungen und würden deutlich langfristiger denken. Deshalb brauche es zum Beispiel auch Finanzierungsoptionen, die nicht nur auf schnelle Exit-Strategien ausgelegt sind.
Eine Unternehmensgründung ist auch ein effektiver Weg, die eigene Entdeckung zu sichern, so Martina Schraudner. Denn Frauen wurde und wird oftmals die Anerkennung für ihre Forschungsbeiträge verwehrt, wie auch ein Blick in die Geschichte beweist: Rosalind Franklin war maßgeblich an der Entschlüsselung der Struktur der DNA beteiligt, aber den Nobelpreis erhielten ihre Kollegen Francis Crick, James Watson und Maurice Wilkins. Dieser sogenannte Matilda-Effekt (benannt nach der Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage) ist ein weiterer Mechanismus, der dazu führt, dass Frauen in Wissenschaft und Forschung unterrepräsentiert sind. „Deshalb sind Kampagnen wie #NoMoreMatildas von AMIT, der Association of Women Researchers and Technologists, so wichtig. Sie klären auf, zeigen Lösungswege auf und spielen damit eine zentrale Rolle, Frauen in die Wissenschaft zu bringen und auch dort zu halten – egal ob in Forschungseinrichtungen oder in der Wirtschaft“, zeigt sich Martina Schraudner überzeugt.
Standardisierung in der Medizin hat unerwünschte Nebenwirkungen
Frauen sind in der Biotechnologie nicht nur in Führungspositionen unterrepräsentiert. Wie in vielen anderen Disziplinen auch ist der Standard in der Forschung der junge, gesunde Durchschnittsmann. In Bereichen wie Ernährung und vor allem Medizin wird Diversität nicht oder nur spärlich berücksichtigt. Faktoren wie die biologischen Unterschiede zwischen Frau und Mann, aber auch andere Faktoren wie Alter oder Einkommen fallen häufig unter den Tisch. Bei der Medikamentenentwicklung ist in klinischen Studien in erster Linie der Schutz von ungeborenem Leben eines der Hauptargumente gegen eine Beteiligung von Frauen. Ein anderer Grund ist das Ziel einer möglichst geringen Variabilität in frühen klinischen Studien. Je ähnlicher sich die Testpersonen sind, desto eindeutigere Ergebnisse sind für Diagnostik und Therapie zu erwarten.
Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité, hält den Fokus auf den Standardpatienten für problematisch. Im schlimmsten Fall würden bei Patientinnen und Patienten, die vom Standard abweichen, Krankheiten nicht erkannt, oder sie erhielten Medikamente, bei denen die gewünschte Wirkung ausbleibt oder gar unerwartete Nebenwirkungen auftreten. Das betreffe Frauen und Männer gleichermaßen. „Wir müssen so früh wie mögliche verschiedene Zielpopulationen in die Forschung und Entwicklung einbeziehen und brauchen darüber hinaus ein viel stärkeres Bewusstsein für Diversität in Diagnostik, Behandlung und Nachsorge“, fordert Stadler. „Sowohl in der Wissenschaft und bei Praktikern, aber auch bei Patientinnen und Patienten.“ Würden beispielsweise Nebenwirkungen systematischer und vollständiger erfasst und anschließend geschlechterspezifisch analysiert, könnten die blinden Flecken in der Medikamentenentwicklung nachträglich ausgebessert werden.
Gendersensible Datenerhebung verbessert Forschung
In Deutschland lassen sich erste Schritte in Richtung einer geschlechtersensiblen Medizin beobachten. Andere Diversitätskriterien würden aber nach wie vor nicht untersucht, berichtet Martina Schraudner. Dabei stünde längst fest, dass sich Bildungshintergrund oder Einkommen auf die Gesundheit und Lebenserwartung der Menschen auswirkt und auch Ethnizität eine Rolle spielt. Einer der Hauptgründe seien die deutschen Datenschutzbestimmungen, die eine Erfassung von Daten jenseits von Geschlecht und Alter schwer machen. „Mittlerweile gibt es technische Möglichkeiten, selbst Kleinstgruppen wie Transgender-Menschen vollständig anonymisiert zu untersuchen. Diese Möglichkeiten müssen wir nur endlich auch in Deutschland nutzen“, fordern Stadler und Schraudner. Patientinnen und Patienten müssten darüber aufgeklärt werden, dass es diese Möglichkeiten gibt und sie mit ihren Daten künftig einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Krankheiten und der Entwicklung von effektiven Therapien leisten können – wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen.
Weiterführende Informationen
acatech HORIZONTE Biotechnologie
Über acatech HORIZONTE
Die acatech HORIZONTE unterstützen die gesellschaftliche Diskussion über die Anwendungs- und Gestaltungsmöglichkeiten neuer Technologien. Jede Ausgabe ist einem Technikfeld gewidmet, das neue Horizonte eröffnet, wirtschaftlich bedeutend ist und gesellschaftlichen Wandel ermöglicht. Diese Technikfelder bereiten die acatech HORIZONTE auf – fundiert, anschaulich und auf dem neuesten Stand der Forschung. Sie klären die Faktenbasis und nehmen gesellschaftliche, volkswirtschaftliche und politische Fragen sowie Gestaltungsoptionen in den Blick.