Schnelle Sprints, statt großer Ankündigungen: Führt Realismus zum erhofften Ruck für Wirtschaft und Arbeit?

München, 24. Februar 2025
Wenige Tage vor der Bundestagswahl machte die Sonderausgabe der #FutureWorkDebatte den Realitäts-Check: Bedarf es nur der Justage bestehender Instrumente oder eher eines handfesten Paradigmenwechsels, um die Weichen für den Wirtschaftsstandort und zukunftsfähige Arbeitsmodelle zu stellen? Dabei wurde schnell deutlich: Opulente Strategieszenarien für langatmige Marathons in der Transformation verlieren an Bedeutung. Stattdessen setzen die Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Sozialpartnern ihre Hoffnungen zunehmend auf zielorientierte Sprints für schnelle, skalierbare Ergebnisse. Wie Deutschland nach der Wahl leichtfüßiger aus dem Startblock kommen kann, das diskutierten die Teilnehmenden mit HR-Kreis-Gastgeber und acatech Präsidiumsmitglied Frank Riemensperger.
Innovationskraft, Wettbewerbsfähigkeit, Attraktivität des Standorts – im Zeichen von Polykrise und Transformation hat der Wirtschaftsstandort Deutschland in zahlreichen Disziplinen nachgelassen. Ob man wohl in den guten Zeiten zu wenig paranoid gewesen sei, eröffnete acatech Kuratoriums-Vorsitzender Henning Kagermann die Veranstaltung mit einer Frage, die auf einen bekannten Buchtitel aus der Feder des Intel-Mitgründers Andrew Grove verweist.
Dialog zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft engmaschiger mit der Umsetzung verknüpfen
Um der gegenwärtigen Polykrise Herr zu werden, genügen die bekannten Werkzeuge für sequenzielle Lösungsfindung nicht mehr, stellte Chief Transformation Officer (CTO) und Mitglied des Vorstands der Carl Zeiss AG Susan-Stefanie Breitkopf fest. Die Herausforderungen sind vielfältig, der Innovationsbegriff in der Diskussion zunehmend verwässert. Um den Standort für Investorinnen und Investoren wie auch Führungskräfte in dieser Situation wieder attraktiv zu machen, sei es daher erforderlich, nicht länger nach einer Weltformel zu suchen. Stattdessen gelte es, sich auf ausgewählte Handlungsfelder zu fokussieren, diese klar zu formulieren und mit entsprechenden Key Performance Indikatoren (KPI) zu unterfüttern.

An die Politik gerichtet, warb Susan-Stefanie Breitkopf darum, Ideen und Visionen in diesen Handlungsfeldern künftig direkter zu operationalisieren. Neue Dialogformate könnten dabei kürzere Zeitfenster aufschließen, die schneller zu Ergebnissen führen. In Experimentierräumen entwickelte Pilotlösungen – so der Tenor der weiteren Diskussion – könnten anschließend in die Breite industrieller Anwendung skaliert und Innovationen damit schneller etabliert werden. Das helfe nicht nur den Unternehmen, sondern könne auch das Zukunftsvertrauen in den Standort und die Wirtschaft zurückbringen, das zuletzt in der Zivilbevölkerung zurückgegangen ist.
Beharrlich und klug priorisieren für mehr Wettbewerbsfähigkeit

Dieser Vertrauensverlust gelte auch für das politische System, knüpfte Wolfgang Schroeder, Professor für Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel an der Universität Kassel, an. Die Entwicklung der Wirtschaft hänge auch von der Zukunftserwartung in der Gesellschaft ab, die aber dadurch gedämpft werde, dass Prioritäten nicht klar seien. Dazu komme, dass Gesellschaften heterogener und angreifbarer werden, Verteilungsspielräume schrumpfen und etablierte Strukturen in Öffentlichkeit und Medien schwinden. Um in diesem Koordinatensystem eine zukunftsorientierte Investitionsfähigkeit zu erlangen, müsse der Wirtschaft mehr Planungssicherheit ermöglicht und bürokratische Hürden abgebaut werden.
Europa gerate unter der aktuellen disruptiven Politik der USA in Bewegung. Man kämpfe um Märkte und Rohstoffe für das postfossile Zeitalter. Die Antwort darauf sei ein selbstbewusster und geschlossener Auftritt Europas. Deutschland, so Wolfgang Schroeders Zusammenfassung, befinde sich aktuell hinsichtlich Demokratie, Innovationen und Lebensstandard in der Defensive. Umso wichtiger sei es, beharrlich und klug zu priorisieren, partizipativ vorzugehen, die vorhandenen Potenziale zu nutzen und Rahmenbedingungen für mehr Geschwindigkeit zu schaffen.
Kann ein eigenes Digitalministerium die Transformation vorantreiben?
Deutschland sei überkomplex entwickelt – sowohl staatlich als auch wirtschaftlich – und zudem nicht auf das hohe Tempo disruptiver Technologien vorbereitet: So skizzierte Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer Bitkom e. V., die vorherrschende Situation aus seiner Perspektive. Diese Problematik zeichne sich im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) deutlich ab.

So sei es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Investitionen aktuell in die USA fließen und die Kapazitäten der US-amerikanischen Rechenzentren im Vergleich zu Europa überproportional wachsen. Es sei daher an der Zeit, sich an den Realitäten zu messen und die eigene Haltung dementsprechend anzupassen.
Denn: Nur wenige Technologien werden aktuell noch von deutschen Unternehmen dominiert. Um hier verlorenen Boden wettzumachen und international besser mithalten zu können, müssen Positionen in künftigen Schlüsseltechnologien besetzt werden – beispielsweise in Quantentechnologien oder an der Schnittstelle zwischen Digitalisierung und Individualmedizin. Die Möglichkeit der Pseudonymisierung biete in diesem Kontext große Chancen für KI-gestützte Gesundheitstechnologien.
Der Verzicht auf die Schriftformerfordernis, eine Überarbeitung von Regulierungen und der Abschluss eines Transformationsprogramms, das Unternehmen für Digitalisierung und Transformation belohnt: All das seien Maßnahmen, mit denen die Politik unterstützen könne, so Bernhard Rohleder. Darüber hinaus brauche es einen verstärkten Dialog zwischen Wirtschaft und Politik und nicht zuletzt auch eine Erkenntnis: Sich auf Ausgewähltes zu konzentrieren, statt alles gleich gut können zu wollen.
Transformation nicht nach Kassenlage betreiben
Jürgen Kerner, zweiter Vorsitzender der IG Metall, bemängelte, dass vieles in der Transformation ins Stocken geraten sei – energieintensive Industrien bauten seit Jahren ab und die Zukunft der Elektromobilität werde aktuell in China entschieden. Auch der einstmals führende deutsche Industriesektor Maschinen- und Anlagebau zeige das: Vom früheren Status als Ausrüster der Welt mit Maschinen und Anlagen sei Deutschland heute weit entfernt. Hinsichtlich neuer Technologien stellte er zudem eine Umsetzungslücke fest. Gerade in mittelständischen Unternehmen werde KI noch nicht systematisch für die Verbesserung von Produkten und Prozessen genutzt.

Man müsse daher künftig entschlossener auf die Zukunftsthemen fokussieren und neben Start-ups die Breite der Wirtschaft im Blick behalten. Dazu brauche es eine Kombination aus Mut, Geschwindigkeit und neuem Dialog – das gelte auch für den innerbetrieblichen Austausch. Denn Innovationen entfalten vor allem Wirkung, wenn sie im Schulterschluss mit der Mitbestimmung umgesetzt werden: Hier gelte es, neue Gestaltungsleitplanken zu entwickeln, die Unternehmen neue Erprobungsräume öffnen – beispielsweise im Einsatz von KI – und den Beschäftigten eine aktive Teilhabe ermöglichen. Wichtige Voraussetzung dafür: Ein Konsens zwischen Unternehmen und Sozialpartnern, der eine starke Vertrauensbasis schafft. Weniger Wut, mehr Mut – so lautete der Appell von Jürgen Kerner.
Mehr Dialog, klare und wirkorientierte Regulatorik – und neues Vertrauen in die Zukunft
Der Wirtschaftsstandort brauche einerseits Planungssicherheit und Anreize für Innovationen – auch durch den Staat als Ankerkunden in neuen Technologiefeldern – und andererseits innovative Formen des Dialogs. Es gelte grundlegend, sich wieder auf die eigenen Stärken zu besinnen, sie zu transformieren und Schwächen abzubauen. Gleichzeitig gehe es um die Frage, was zu mehr gesellschaftlicher Orientierung führen kann: So lautete das Fazit von Henning Kagermann. Große Chancen für eine erfolgreiche Weichenstellung lägen darin, neue Gestaltungsspielräume in Zusammenarbeit mit Sozialpartnern zu schaffen, auf paralleles Handeln zu setzen und dabei auch zugunsten der Geschwindigkeit ganz bewusst Lücken in Kauf zu nehmen, ergänzte Frank Riemensperger die abschließende Zusammenfassung.