Zukunft der Arbeit: Digitalisierung revolutioniert chemische und pharmazeutische Industrie

Frankfurt, 18. November 2015
Wie verändert die Industrie 4.0 die Arbeit und das Modell der betrieblichen Mitbestimmung? Darüber diskutierten rund 110 Betriebsräte, Firmenvertreter und Wissenschaftler aus der Prozessindustrie am 12. November in Frankfurt (Main). Der von acatech und der Hans-Böckler-Stiftung in Zusammenarbeit mit IG BCE und VDI-TZ organisierte Workshop widmete sich auch den Anforderungen an Aus- und Weiterbildung.
Rund eine halbe Millionen Menschen arbeiten allein in Deutschland in der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Doch anders als in der industriellen Produktion existiert in der Prozessindustrie noch wenig Wissen über die Auswirkungen der Industrie 4.0, also der Digitalisierung und Vernetzung der Arbeitsorganisation. Der gemeinsame Workshop Digitalisierung der chemischen und pharmazeutischen Industrie: Handlungsfelder für Gewerkschaften und Betriebsräte in der Industrie 4.0 stellte sich diesen Fragen. Vorgestellt wurden auch Forschungsprojekte und Praxis-Beispiele aus Unternehmen.
„Noch lassen sich die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt kaum abschätzen. Genau deshalb müssen wir uns schon jetzt mit dem Thema Industrie 4.0 beschäftigen“, erklärte der Vorsitzende des IG BCE Landesbezirks Hessen-Thüringen Volker Weber. Zwar seien intelligente Logistik und Automatisierung für die Chemie- und Pharmabranche nicht neu. Doch die digitale Vernetzung über einzelne Betriebe hinaus leite einen völlig neuen Grad der Flexibilisierung von Produktion und Arbeit ein.
Arbeit der Zukunft: Automatisierung vs. Spezialisierung
Zur Zukunft der Arbeit skizzierte Walter Ganz, Institutsdirektor am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, zwei denkbare Szenarien. Einerseits die vollständige Automatisierung aller Tätigkeiten bis hin zur menschenleeren Fabrik. Andererseits die zunehmende Spezialisierung der Mitarbeiter: Unterstützt durch Assistenzsysteme und Roboter übernehmen sie immer anspruchsvollere Aufgaben und steuern die komplexen Prozesse einer vernetzten und individualisierten Produktion. Welches Szenario dominieren werde, so Ganz, hänge auch von den Weichenstellungen in den Unternehmen ab. Forcieren sie die Automatisierung oder investieren sie in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter?
Nach den Worten von Uwe Liebelt, dem Leiter des Projekts BASF 4.0, führen Digitalisierung und Vernetzung zumindest innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre nicht zur menschenleeren Fabrik. „Den Operator, der mit dem Tablet vom Sofa aus die Anlage fährt, wird es erst einmal nicht geben“, sagte er. Immer wichtiger für die Belegschaften würden hingegen intelligente Assistenzsysteme. Deshalb habe man eine Industrie 4.0 Bildungspyramide eingerichtet und werde rund 100.000 BASF-Mitarbeiter für die Industrie 4.0 schulen. „Das Potenzial der Industrie 4.0 können wir nur nutzen, wenn wir die Mitarbeiter entsprechend aus- und weiterbilden“, erklärte Liebelt.
Mitbestimmung zwischen Kampf und Fairness
Den Weg dahin skizzierte die IG-BCE-Bereichsleiterin für Forschung, Innovation und Technologie Iris Wolf. Neben dem technischen Wissen etwa um IT-Prozesse würden in Zukunft Soft Skills und Sprachkenntnisse immer wichtiger. Kaum ein Mitarbeiter in der Produktion spreche heute jedoch Englisch. „Wir müssen aufpassen, dass wir alle Kollegen mitnehmen und für den Wandel zur Industrie 4.0 fit machen“, sagte sie.
Einen Blick in die weitere Zukunft wagte zum Abschluss Marc Schietinger von der Hans-Böckler-Stiftung, der vier mögliche Szenarien zur Mitbestimmung im Jahr 2035 vorstellte. Achte man auf Verantwortung und Fairness könnten sich auch 2035 kollektive und repräsentative Formen der Mitbestimmung behaupten. Möglich seien aber auch Szenarien, die zu einem stärkeren Konkurrenzkampf der Beschäftigten führe. „Im Wettbewerbsszenario steht der einzelne Arbeitsnehmer für sich und kämpft nur für seine Interessen. Betriebsräte sprechen nicht mehr für die ganze Belegschaft“, erklärte Schietinger. Wichtig sei es daher, Politik und Wirtschaft davon zu überzeugen, dass Mitbestimmungsrechte auch in der Industrie 4.0 wichtig bleiben und weiterhin zum Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft gehören.
Über die Workshop-Reihe Zukunft der Industriearbeit
In der Industrie 4.0 bestimmen die einzelnen Bauteile ihre nächsten maschinellen Bearbeitungsschritte – Wertschöpfung wird vernetzt und individualisiert bis hin zur Einzelfertigung zu Preisen wie in der heutigen Massenproduktion. Doch wie verändert sich damit die Arbeit? Wie müssen Belegschaften auf die Industrie 4.0 vorbereitet werden und wie werden Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft aussehen?
Diese Diskussion möchten acatech und die Hans-Böckler-Stiftung mit Workshops im Rahmen des von Günther Schuh (RWTH Aachen) geleiteten Projekts „Zukunft der Industriearbeit“ anstoßen. Der erste Workshop „Industrie 4.0 im betrieblichen Kontext“ im Dezember 2014 führte in das Thema ein. Rund 30 Experten aus Wissenschaft, Unternehmen und Gewerkschaften analysierten Praxisbeispiele aus Unternehmen und im Hinblick auf die Arbeit 4.0. Geplant sind weitere Workshops, etwa zur Weiterbildung der Beschäftigten.
Ergebnisse der Diskussionen, Praxisbeispiele, Erfahrungen, Positionen und Publikationen werden auf der Webseite www.zukunft-der-industriearbeit.de dokumentiert.