acatech HORIZONTE: Biotechnologie
Was haben Vanilleeis und Coronaimpfstoff gemeinsam? In beiden Produkten steckt Biotechnologie, wie auch in vielen weiteren Begleitern unseres Alltags – in Brot, Wein, Apfelsaft, Medikamenten, Shampoo oder sogar in Turnschuhen. Aber was ist Biotechnologie eigentlich genau? Sie umfasst alle technischen Anwendungen, bei denen der Mensch sich biologische Prozesse für die Herstellung eines Produkts zunutze macht. Wie hat sich die Biotechnologie über die Jahrhunderte entwickelt und wo begegnen wir ihr heute überall? Und vor allem: Wie kann sie uns helfen, die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu bewältigen? Die neue acatech HORIZONTE Biotechnologie gibt einen Überblick über diese und weitere spannende Fragen.
HORIZONTE ist auch auf LinkedIn und bietet dort „Science in Snacks“.
Der acatech HORIZONTE Podcast
„Late Night Tech“ ist ein Podcast für alle, die Lust haben auf gute Gespräche rund um Wissenschaft, Technik und Community Insider. Faktenbasiert und ganz entspannt sprechen Christina Müller-Markus und Dr. Sandra Fendl vom acatech HORIZONTE-Team mit renommierten Experten und Expertinnen über aktuelle Themen.
Übrigens…
Antworten auf Fragen, die die acatech HORIZONTE Biotechnologie so nicht stellt, gibt das HORIZONTE logbuch.
Was ist Biotechnologie?
Biologie und Technologie – wie passt das zusammen? Wir schauen uns von der Natur ab, wie Enzyme, Zellen, Pilze und Bakterien funktionieren, und setzen unsere Beobachtungen in technische Anwendungen um. Haben Sie schon mal selbst Brot gebacken? Einen Fleck auf der Hose mit Gallseife entfernt oder aus Versehen Frischmilch im Kühlschrank zu Dickmilch werden lassen? Herzlichen Glückwunsch! Sie haben bereits mit mehr oder weniger großem Erfolg Biotechnologie angewendet, also mithilfe von Mikroorganismen und entsprechender Technik ein Produkt hergestellt. Menschen nutzen Biotechnologie schon seit Jahrtausenden:
Biotechnologie ist überall – oft ohne, dass wir es merken. Sie steckt in alltäglichen Produkten, in Nahrungsmittel oder in Medikamenten. Sie sichert unser Überleben und sorgt für Wohlstand in vielen Lebensbereichen.
Biotechnologie im Alltag
Biotechnologie ist unsere stetige Begleiterin und aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Viele Produkte des täglichen Gebrauchs basieren heute auf biotechnologischen Methoden. Allerdings ist dies einem großen Teil der Bevölkerung nicht bewusst. Die folgenden Beispiele für biotechnologische Produkte im Alltag sind nur ein kleiner Auszug aus der Fülle der vorhandenen biotechnologischen Anwendungen.
Biotechnologie zum Essen und Trinken
Der Mensch nutzt seit Jahrtausenden biotechnologische Methoden, um Nahrungsmittel wie Brot, Sauerkraut und Wein herzustellen, zu veredeln oder haltbar zu machen. Dieses Wissen hat sich natürlich weiterentwickelt und wird beispielsweise bei der Herstellung von Aromastoffen angewendet. Vanillegeschmack gibt es gleich in dreifacher Ausführung, natürlich, chemisch und biotechnologisch hergestellt. Die Grafik erklärt den Unterschied:
Die Biotechnologie bietet in Sachen Ernährung auch innovative, nachhaltige Möglichkeiten, um neue Produkte hervorzubringen und gleichzeitig dem Klimawandel entgegenzuwirken. So trägt der hohe, stetig wachsende Fleischkonsum signifikant zur globalen Erwärmung bei: Industrielle Fleischproduktion und Massentierhaltung sind für 14 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Auch der Wasser- und Flächenverbrauch bei der Tierzucht ist enorm. Mehr dazu können Sie in acatech HORIZONTE „Nachhaltige Landwirtschaft“ lesen. Viele Menschen wollen trotzdem nicht auf Fleisch verzichten, während andere versuchen, ihren Fleischkonsum zu reduzieren, und nach Alternativen suchen. Alternativen bietet hier die Biotechnologie: Sie kann nicht nur alternative Eiweißquellen erschließen. Sie kann pflanzlichen Tierersatzprodukten mithilfe von Pilzen oder Enzymen auch einen „fleischigen Geschmack“ geben, und damit den Menschen eine Änderung des Konsumverhaltens erleichtern. Im Labor hergestelltes Fleisch, sogenanntes In-vitro-Fleisch oder Cultured Meat könnte künftig auch einen Beitrag zu Tierwohl und Umweltschutz leisten:
Biotechnologie in der Landwirtschaft
Die Weltbevölkerung wächst stetig. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2050 etwa zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, die Nahrung brauchen. Gleichzeitig sind die Ressourcen endlich. Biotechnologie und Gentechnik können dazu beitragen, diese Herausforderung zu lösen.
Medizinischer Fortschritt durch biotechnologische Ideen
In der Medizin spielt die Biotechnologie heute eine tragende Rolle in der Diagnostik und Therapie von Krankheiten. So sind biotechnologische Methoden an der Entstehung nahezu aller Arzneimittel beteiligt, die heute auf den Markt kommen. Das betrifft alle Stufen der Medikamentenentwicklung: von der Erforschung der Krankheitsursachen über zugrunde liegende Gene bis hin zur Produktion der Medikamente mithilfe von Enzymen oder Bakterien. Auch die Gentechnik zählt zu den biotechnologischen Methoden der Medizin; sie ist zum Beispiel unabdingbar bei der Herstellung von Coronaimpfstoffen oder in der Krebstherapie: Das Beispiel der Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus zeigt die Vorteile der medizinischen Biotechnologie:
Die vergessenen Pionierinnen der Biotechnologie
Frauen haben in allen Bereichen der Biotechnologie echte Pionierinnenarbeit geleistet. In der historischen Betrachtung werden wissenschaftliche Errungenschaften von Frauen aber häufig nicht in gleichem Maße gewürdigt, wie die ihrer männlichen Kollegen. So war die britischen Wissenschaftlerin Rosalind Franklin maßgeblich an der Entdeckung der DNA Doppelhelixstruktur im Jahr 1953 beteiligt. Der Nobelpreis ging aber nur an James Watson und Francis Crick und auch in Biologiebüchern wird sie häufig ignoriert.
Auch wenn heute die Studienfächer Biologie und Biotechnologie mit einem Frauenanteil von jeweils rund sechzig Prozent in Deutschland zu den Naturwissenschaften gehören, in denen Frauen am stärksten vertreten sind, sind sie in führenden Positionen von Wissenschaft und Industrie noch immer unterrepräsentiert. Das gleiche Muster lässt sich bei den Unternehmensgründungen in der Biotechbranche in Deutschland erkennen. Der Frauenanteil an allen Gründerpersonen in Deutschland im Jahr 2020 lag bei 38 Prozent, wobei die Zahl in der Biotechnologie deutlich darunter liegt. Bei den 183 Biotech-Gründerteams in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland war nur in neun Prozent der Start-ups eine Frau dabei. Es gibt also noch viel zu tun, damit die Errungenschaften von Wissenschaftlerinnen und deren Innovationsgeist die Biotech-Branche erobern – besonders in den Führungsetagen.
Deutschland im internationalen Vergleich?
Die Biotechnologie gilt in vielen Ländern als wichtiger Treiber des Fortschritts. Ein wichtiges Innovationsfeld ist die Medizin, etwa bei der Forschung an Covid-19, Krebs oder anderen lebensbedrohlichen Krankheiten. Biomedizinischen Daten von Patientinnen und Patienten spielen dabei eine entscheidende Rolle, Fachleute sehen darin die Grundlage der Medizin von morgen. Sie bieten den Forschenden neue Möglichkeiten, Zusammenhänge zu erkennen, Krankheiten schon vor ihrem Ausbruch zu entdecken und hochwirksame, personalisierte Therapien zu entwickeln. Finnland und Großbritannien nutzen bereits biologisch-medizinische Datenbanken: Circa 500.000 Menschen stellen hier in einer freiwilligen und pseudonymisierten Datenspende ihre medizinische Daten der Forschung zur Verfügung. In Deutschland steckt die Entwicklung medizinischer Datenbanken dagegen noch in den Kinderschuhen.
Expertinnen und Experten sind sich aber einig, dass Deutschland in der Biotechnologie grundsätzlich zu den Vorreitern zählt. So konnten deutsche Unternehmen in der Coronapandemie zum Beispiel innerhalb kürzester Zeit aufgrund ihrer Erkenntnisse aus jahrelanger, exzellenter Forschung Coronaimpfstoffe entwickeln und auf den Markt bringen. Problematisch hierzulande ist eher die Unternehmensfinanzierung, vor allem beim Sprung vom Start-up zum Unternehmen mit einer auf große Ausbringungsmengen skalierten Produktion. Die Coronapandemie hat zwar zu Rekordwerten bei innerdeutschen Investitionen in der Biotechfinanzierung geführt, im Ländervergleich sind sie jedoch nach wie vor auf niedrigem Niveau.
Wie geht es weiter?
Biotechnologie kann uns helfen, Herausforderungen der Menschheit wie Ernährung und Klimawandel zu adressieren. Was können Staat, Unternehmen, Forschung und Gesellschaft tun, damit die Potenziale der Biotechnologie voll ausgeschöpft werden und Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt gleichermaßen von ihr profitieren?
- Die Politik kann den Spielraum der Biotechnologie entscheidend mitgestalten. Sie kann bei der Förderung von Start-ups, anderen agilen Akteuren und mittelständischen Unternehmen mehr Risikobereitschaft zeigen und rechtliche Regularien überdenken. Denn langwierige, kostenintensive Genehmigungsprozesse behindern Innovationen.
- Wissenschaft und Forschung sind Motor und Fundament des biotechnologischen Fortschritts. Ihre Aufgaben sind der schnelle, transdiziplinäre Transfer von Forschungsergebnissen in die Anwendung und die verständliche Kommunikation von wissenschaftlichen Konzepten an Gesellschaft und Politik, um Dialog und Meinungsbildung zu ermöglichen.
- Die Wirtschaft muss mehr wagen. Das Potenzial von Biotechnologie lässt sich kaum kurzfristig heben, es braucht einen langen Atem, Offenheit gegenüber neuen Partnern und Finanzierungsmodellen.
- Die Gesellschaft gestaltet einen offenen Dialog über Chancen, Erwartungen und Befürchtungen mit Wissenschaft und Politik aktiv mit. Sie kann sowohl durch Meinungsäußerung wie durch ihr Konsumverhalten Veränderungen bewirken.
Von der Politik über Wirtschaft und Forschung bis hin zur Gesellschaft schließt sich der Kreis. Ziehen alle Akteure an einem Strang, bietet die Biotechnologie enorme Chancen, unsere Zukunft nachhaltig, gesund und modern zu gestalten.
Mitglieder der Projektgruppe
- Dr. Viola Bronsema
BIO Deutschland - Prof. Dr. Andrea Büttner (Projektgruppenleiterin)
Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV) und FAU Erlangen-Nürnberg - Prof. Dr. Stefanie Heiden
Institut für Innovations-Forschung, Technologie-Management und Entrepreneurship ITE der Leibniz Universität Hannover - Prof. Dr. Liggesmeyer
Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) und Lehrstuhl für Software Engineering: Dependability der Technischen Universität Kaiserslautern - Dr. Guido Meurer
Brain Biotech AG - Prof. Dr. Scheper
Institut für Technische Chemie an der Leibniz-Universität Hannover - Dr. Petra Wicklandt
Merck Gruppe
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