Drei Fragen an Björn Sautter zur Expertise „Engineering autonom wandelbarer Industrie 4.0-Systeme“

Dr. Björn Sautter, Senior Expert Industrie 4.0 bei der Festo SE & Co. KG
Bild: © Festo SE & Co. KG
München, 15. April 2025
1. Maschinenausfälle oder krankheitsbedingte Personalausfälle sowie zunehmend auch kurzfristige Lieferkettenengpässe stellen für Unternehmen große Herausforderungen dar. Autonom wandelbare Industrie-4.0-Systeme gelten hierbei als eine Lösung, diese Probleme künftig anzugehen. Was verstehen Sie unter autonom wandelbare Industrie-4.0-Systeme und mit welchen Engineering-Methoden können solche Systeme künftig entstehen?
Unter autonom wandelbaren Industrie 4.0 Systemen verstehe ich vernetzte Produktionssysteme, die in der Lage sind, sich selbstständig an neue Bedingungen anzupassen und Veränderungen vorzunehmen. Aus meiner Sicht ermöglichen solche zukunftsweisenden Produktionssysteme neue Leistungssprünge im Gesamtsystem einer nachhaltigen Produktion. So trägt der Einsatz fortgeschrittener technischer Intelligenz dazu bei, dass sich die Systeme situationsgerecht und nahezu in Echtzeit auf lokale Störungen bzw. Änderungen – sei es auf der Ebene des Fertigungsprozesses, der Supply Chain oder des kollaborativen Wertschöpfungssystems – anpassen können. Die kontinuierliche dezentrale Selbstbewertung und -anpassung ist dabei stets auf die Optimierung des Gesamtsystems entsprechend den vorgegebenen Zielparametern wie Produktivität, Qualität, Effizienz, Resilienz, etc. ausgerichtet.
Für die erfolgreiche Realisierung in der industriellen Praxis müssen unterschiedliche Perspektiven einbezogen und die verschiedensten Fachdisziplinen miteinander kombiniert werden. Es wird also ein integrativer Engineering-Ansatz benötigt, der die vielfältigen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten im System berücksichtigt. Klassische Engineering-Methoden stoßen hier an Ihre Grenzen. Die Methoden des Systems Engineering sind dafür sehr vielversprechend und stellen eine gute Ausgangsbasis dar.
2. Systems Engineering betrachtet Produktionssysteme ganzheitlich in ihren Wechselwirkungen zwischen Organisation, Technologie und Menschen. Wie kann Systems Engineering in diesem Zusammenhang bei der Entwicklung autonom wandelbarer Produktionssysteme helfen, was sind dabei die Herausforderungen und wie können Politik und Wissenschaft die Unternehmen bei dieser Transformation unterstützen?
Die Expertise, erstellt durch das Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik (IEM), gibt hier einen sehr guten Überblick. Systems Engineering ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Gestaltung komplexer Systeme, wie er zum Beispiel in der Luft- und Raumfahrt eingesetzt wird. Übertragen auf die Gestaltung autonom wandelbarer Produktionssysteme, kann dieser Ansatz konkret dabei helfen, die verschiedenen Teildisziplinen beispielsweise der Produkt- und Produktionsentwicklung mit Blick auf den größten gemeinsamen Gesamtnutzen in ein Systemmodell zu integrieren. Weil es sich um komplexe soziotechnische Systeme mit vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den drei Dimensionen Mensch, Technologie und Organisation handelt, werden dabei nicht nur Ingenieurskompetenzen, sondern auch Sozial- und Methodenkompetenzen sowie das Lösungswissen der Informatik, der Betriebswirtschaft und weiterer Fachdisziplinen berücksichtigt.
In der unternehmerischen Praxis findet man jedoch selten solche ganzheitlichen Ansätze zur Entwicklung von Produktionssystemen. Starre Strukturen, fehlende Vorgehensmodelle für ein durchgängiges, vernetztes Engineering oder der Mangel an entsprechend geschultem Personal sind dabei einige der Herausforderungen. Zur Unterstützung des erforderlichen Wandels in den Unternehmen benennt die Expertise deswegen drei Handlungsfelder:
a) Stärkung der Kollaboration, das heißt der zielgerichteten disziplin-, bereichs- und organisationsübergreifenden Vernetzung und Zusammenarbeit im Engineering
b) Weiterentwicklung von Engineering-Methoden und entsprechender Standards für die nächste Evolutionsstufe in der Produktionssystementwicklung
c) Investition in Wissen und Bildung zum Aufbau und zur nachhaltigen Sicherung der benötigten Engineering-Kompetenzen in Deutschland
3. Wie ist der aktuelle Entwicklungsstand innerhalb der Forschung, aber auch innerhalb der deutschen Industrielandschaft? Gibt es in dieser Hinsicht Pioniere, was die Anwendung in Unternehmen angeht?
Die Expertise zeigt in vier Best Practices, wie sich Pioniere aus der Industrie bereits auf den Weg gemacht haben in Richtung autonom wandelbare Industrie 4.0 Systeme. So hat zum Beispiel ein Unternehmen aus der Automobilindustrie in seiner „Fabrik der Zukunft“ ein hochmodernes, vernetztes Produktionssystem mit Industrie 4.0 Technologien eingeführt, um die Effizienz und Flexibilität der Produktionsprozesse deutlich zu steigern. Insgesamt haben wir aber noch ein gutes Stück Wegstrecke vor uns, wie auch die Engineering Roadmap des Forschungsbeirats zeigt. Es gibt in den kommenden 10 Jahren noch etliche Fragen zu beantworten und Lösungen zu finden.
Wir haben in Deutschland gute Voraussetzungen, die Fähigkeit zum Engineering komplexer, autonom wandelbarer Industrie 4.0-Systeme als ein Alleinstellungsmerkmal im globalen Wettbewerb zu etablieren. Diese Chance sollten wir nutzen für mehr Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit am Forschungs-, Innovations- und Produktionsstandort Deutschland.
Die Publikation des Forschungsbeirats Industrie 4.0 „Engineering autonom wandelbarer Industrie 4.0-Systeme“ vertieft diese Themen. Die Publikation finden Sie hier.