HORIZONTE nachgefragt! im Gespräch mit Prof. Dr. Joachim Ullrich
HORIZONTE nachgefragt!
„Die Grenzen des Machbaren werden nur durch unsere technischen Möglichkeiten und letztendlich durch die Quantenstruktur der Naturgesetze bestimmt.“
Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Ullrich, Präsident, Physikalisch-Technische Bundesanstalt
Jenseits des gesunden Menschenverstands: Spielen philosophische Aspekte der Quantenphysik, wie beispielsweise die Wirkung des Beobachters, eine Rolle in der Praxis?
„Mit den Möglichkeiten durch Quantentechnologien kommen wir heute, besonders bei präzisen Messungen, in Bereiche, in denen solche Effekte sichtbar werden. Wir sehen in Experimenten, dass die Empfindlichkeit von Messungen durch den Prozess der Beobachtung selbst limitiert ist – ein Effekt, den die klassische Physik nicht kennt. Gleichzeitig liefern Quantentechnologien durch geschicktes Ausnutzen von Quanteneffekten einen Weg, diese Limits zu überwinden und Sensoren zu schaffen, die durch klassische Methoden unerreichbar sind. Darüber hinaus gibt es Beobachtungen, wie die „Verschränkung“ oder das „Tunneln“, welche dem „gesunden Menschenverstand“ nicht zugänglich sind, und tief in unser Verständnis der Realität eingreifen. So können zwei Teilchen oder Quanten über beliebige Distanzen über eine „spukhafte Fernwirkung“, wie es Einstein ausgedrückt hat, instantan verbunden – „verschränkt“ – sein. Oder Quantenteilchen, z. B. Elektronen können „Berge durchtunneln“ und dadurch in Bereiche kommen, die klassisch nicht zugänglich wären.“
Ein Kilogramm ist ein Kilogramm ist ein Kilogramm: Welche Rolle spielen Quantenphysik und Quantentechnologie bei der Neudefinition des Internationalen Einheitensystems (SI) gespielt?
„Nach der Neudefinition des Internationalen Einheitensystems, des SI, durch die Meterkonvention – ein Zusammenschluss von über einhundert Staaten – im Jahr 2019 ergeben sich die Einheiten kohärent und natürlich aus fixierten Zahlenwerten von Naturkonstanten, etwa dem Planck‘schen Wirkungsquantum, der Lichtgeschwindigkeit oder der Ladung des Elektrons. So ist die Sekunde definiert als exakt 9 192 631 770 Schwingungen einer quantisierten speziellen Übergangsfrequenz, sozusagen eines „kleinen Pendels“ im Cäsiumatom. Damit ist das SI zu ganz wesentlichen Teilen ein „Quanten-SI“. Sehr deutlich wird diese „Revolution im Einheitensystem“ beim Kilogramm, das nun nicht mehr durch ein Artefakt, das Ur-Kilogramm in Paris, realisiert wird, sondern durch den Rückgriff auf drei Naturkonstanten, unter anderem eben das Planck‘sche Wirkungsquantum. Damit ist das neue SI stabiler, universeller und zukunftsfähig. Durch quantentechnologische Methoden, darunter auch vollkommen neue, können die Einheiten jetzt überall – ja sogar im gesamten Universum, wie Planck es 1900 ausgedrückt hat – realisiert werden. Selbstverständlich auch in Industrie- oder in Kalibrierlaboratorien. In Zukunft gibt keinerlei Limitierung mehr in der erreichbaren Genauigkeit der Realisierung durch die Definition der Einheiten selbst. Die Grenzen des Machbaren werden nur durch unsere technischen Möglichkeiten und letztendlich durch die Quantenstruktur der Naturgesetze bestimmt. Damit eröffnen sich große Möglichkeiten für Innovationen in Messtechnik und Industrie.“
Die aktuellen Atomuhren sind bereits äußerst präzise. Wozu sollten wir noch bessere Uhren entwickeln? Wird der Fortschritt bei der Präzision überhaupt im Alltag sichtbar?
„In der Physik gibt es fundamentale Fragen, auf die wir heute keine Antworten haben. Als Beispiel seien hier die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie genannt – also die Frage, warum es nicht genau so viel Antimaterie wie Materie im beobachtbaren Universum gibt. Darüber haben wir eindeutige Hinweise, dass etwa 23 % der Masse des Universums aus sogenannter „dunkler Materie“ besteht, die jedoch nie direkt beobachtet wurde. Schließlich gehen theoretische Modelle, die eine Vereinheitlichung aller physikalischer Theorien erforschen, von einer möglichen zeitlichen Änderung der Naturkonstanten aus, die bisher ebenfalls nicht in Experimenten nachgewiesen ist. Neuartige Atomuhren können mit ihrer äußersten Präzision zu all diesen Fragen neue Einblicke liefern und so bei der Entwicklung von Theorien zur Klärung solcher Fragen helfen und unser physikalisches Weltbild vervollständigen. Aber auch in der praktischen Anwendung ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten: So erlauben transportable und im Feld nutzbare Atomuhren bahnbrechende Verbesserungen beispielsweise bei Positionsbestimmung über GPS, Synchronisation von Datenströmen, Telekommunikation und Geodäsie. So „ticken“ modernste Atomuhren nach der Einstein‘schen allgemeinen Relativitätstheorie „nachweisbar anders“, wenn man sie auch nur 1 cm im Gravitationsfeld der Erde anhebt oder absenkt. Sie sind also extrem sensitive Sensoren für Massen direkt unter der Uhr, wie z. B. Erze, unerkannte Wasserströme oder auch durch den Klimawandel abschmelzende Eismassen.“
Bei welchem Bereich der Quantentechnologien sehen Sie das größte Potential für eine disruptive Wirkung?
„Quantencomputer bieten ein großes Potenzial, bestimmte Probleme in deutlich kürzerer Zeit zu lösen, als dies auf klassischen Computern je möglich sein wird. Die Auswirkungen reichen hier von völlig neuen Ansätzen bei der gezielten Herstellung von Chemikalien mit vollständig neuen Eigenschaften, bei komplexen Optimierungsproblemen z. B. im Verkehr bis hin zur Überwindung von klassischen Verschlüsselungsalgorithmen für Daten, mit entsprechend weitreichenden, auch ökonomischen Konsequenzen.“
23.11.2020
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