Digitaler Souverän Europa? – Über den Umgang mit Abhängigkeiten in der vernetzten Welt
Tutzing, 2. Mai 2022
In Europa genutzte digitale Technologien und Plattformen stammen häufig von anderen Kontinenten – wo dann teilweise auch die Daten europäischer Verbraucherinnen und Verbraucher gespeichert werden. Wie steht es also um die Digitale Souveränität Europas? Ist ein Digitaler Souverän Europa überhaupt möglich? Diese Fragen standen auf einer Tagung der Akademie für Politische Bildung Tutzing in Zusammenarbeit mit acatech am 22./23. April im Mittelpunkt.
Technologische Souveränität Europas: Von der Idee zu einem neuen Narrativ und prioritären Politikziel
Globale Herausforderungen, Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit waren die Themen des einleitenden Vortrags von acatech Präsident Jan Wörner am ersten Veranstaltungstag. Die grundsätzliche Herausforderung liege darin, dass sich hier jeder (staatliche) Akteur eine autarke Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit wünsche, diese aber in einer vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts utopisch sei. Sein Plädoyer lautet: von den illusorischen Sehnsüchten „der Autarkie, des Autismus und Alleinseins“ abzurücken und stattdessen „Kompetenz und Kooperation“ zu verbinden.
Videointerview mit Jan Woerner zur Digitalen Souveränität Europas
Entstehung und Facetten technologischer Abhängigkeiten
Anschließend ging Helmuth Trischler, Forschungsdirektor, Deutsches Museum und Rachel Carson Center for Environment and Society, in seinem Beitrag auf das Thema “Europa als integrierter Wissens- und Technikraum” ein. Eine seiner zentralen Botschaften: Das “Europa des Wissens” stehe in der öffentlichen Wahrnehmung im Schatten des politischen und wirtschaftlichen Europas – der „Souverän Europa“ sei das Ergebnis der Bemühungen, eine technologische Abhängigkeit von den USA zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse stärker in transnationale Infrastrukturen investiert werden.
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Helmuth Trischler
Die Digitale Souveränität Europas – als Narrativ und prioritäres Politikziel – sollte engstens verbunden sein mit dem europäischen Wertekanon von Transparenz und Offenheit, Partizipation und demokratischer Kontrolle. Eine der zentralen Herausforderungen besteht dabei darin, die Prinzipien der offenen Zugänglichkeit von digitalen Dateninfrastrukturen mit wirtschaftlicher Wertschöpfung zu verknüpfen.
Mit den verschiedenen Faktoren, die in der Vergangenheit eine wachsende technologische Abhängigkeit Europas begünstigt haben, begann acatech Präsident Reinhard Ploss, seinen Vortrag. Er nannte in diesem Zusammenhang die Globalisierung, die Liberalisierung der EU-Märkte, die Skalenökonomie und kulturelle Faktoren. Eine Digitale Souveränität für Deutschland und Europa sei zukünftig nur zu erlangen, wenn die Verfügbarkeit von geeigneten Technologien und Daten – auch in Krisenzeiten – sichergestellt sei. Unternehmen, öffentliche Einrichtungen und ausreichende Fachkräfte müssten die Kompetenzen besitzen, digitale Technologien zu bewerten, zu überprüfen und einzusetzen. Und schließlich bräuchten europäische Unternehmen einen regulatorischen Rahmen, der die Skalierung von auf digitalen Technologien beruhenden Geschäftsmodellen, Produkten und Diensten ermögliche. Es brauche konzertiertes Handeln, Kooperation und Zusammenarbeit, sagte Reinhard Ploss.
Videointerview mit Reinhard Ploss zur Digitalen Souveränität Europas
Am Beispiel von KI-Applikationen ging Thomas Hahn, Siemens AG, zu Beginn seines online gehaltenen Vortrags auf die vier Faktoren „Sicherheit“, „Schutz“, „Wertschöpfung“ und „Zuverlässigkeit“ ein. Gemeinsam genutzte Daten dürften nur auf sichere, kontrollierte und transparente Weise ausgetauscht werden, forderte er. Thomas Hahn stellte die Facetten technologischer Abhängigkeiten ins Verhältnis zu einem ganzheitlichen Politikansatz, der unter anderem darauf zielt, den Technologietransfer voranzutreiben, das System-Knowhow zu erhalten, Zukunftskompetenzen zu entwickeln und Schlüsseltechnologien zu beherrschen. Wohingegen aus Firmensicht eher die Frage nach dem Geschäftsmodell und der Partner-Strategie im Vordergrund stehe. In beiden Fällen müssten Schlüsseltechnologien, Know-How, Infrastruktur und Lieferketten im Blick behalten werden.
Christina Schmidt-Holtmann, Leiterin Referat „Datenverfügbarkeit, Digitale Souveränität, SPRIND“, Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, betonte in ihrem Vortrag, dass die Debatte um Digitale Souveränität mit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 und den darauffolgenden Unsicherheiten ihren Anfang nahm. Mit der Datenstrategie 2021 definierte die Bundesregierung dann den Souveränitätsbegriff. Es gehe dabei um Selbstbestimmtheit und Transparenz, nicht aber um Abgrenzung.
Gestaltung der digitalen Souveränität Europas – Wie kann eine Cloud nach europäischen Maßstäben aussehen?
Das abendliche Panel wurde eingeleitet durch einen Impuls von Wieland Holfelder, Vice President Engineering bei Google Germany und Leiter des Entwicklungszentrums in München, dem sich eine Diskussionsrunde mit Jan Wörner, Reinhard Ploss sowie Alexandra Borchardt, Journalistin und Beraterin, TUM School of Management in München, anschloss.
Deutschland zähle zu den am größten und am besten vernetzten Volkswirtschaften, konstatierte Wieland Holfelder. Derzeit durchlaufe das Land eine digitale Transformation, die auch durch die Nutzung von Cloud-Diensten ermöglicht werde. Organisationen würden von diesen Cloud-Lösungen erwarten, dass sie gewisse Anforderungen in puncto Sicherheit, Datenschutz und digitaler Souveränität erfüllen, ohne dass dabei Funktionalität oder Innovationsfähigkeit eingeschränkt sind, sagte Wieland Holfelder.
Rahmenbedingungen und Zielkonflikte – Strukturelle Voraussetzungen für die digitale Souveränität Europas
Peter H. Ganten, Vorstandsvorsitzender Open Source Business Alliance – Bundesverband für digitale Souveränität e.V. in Stuttgart, eröffnete den zweiten Veranstaltungstag mit einem Vortrag zum Thema “Datensouveränität”. Der Begriff impliziere zum einen Kontrollfähigkeit und zum anderen Gestaltungsfähigkeit, sagte er. Die Datensouveränität Europas sei folglich die Fähigkeit des Staates, Kontrolle auszuüben, um Abhängigkeiten zu reduzieren. Wettbewerbsfähigkeit sei nur möglich auf Grundlage Digitaler Souveränität. Um diese zu erlangen, bräuchten Deutschland und Europa unabhängige Hard- und Software (Open-source Software) sowie Fachkräfte, die damit umgehen können. Dafür müssten Kapazitäten ausgebaut und bereits in der Schule Kompetenz aufgebaut werden, sagte Peter H. Ganten.
Julia Hess, Projektmanagerin „Technologie und Geopolitik“, Stiftung Neue Verantwortung e.V., Berlin, unterstrich in ihrem Vortrag, dass strategische Autonomie ohne Kompetenzen und Kooperationen nicht möglich seien. Internationale Partnerschaften in Politik und Industrie müssten gestärkt werden. Eine strukturelle Voraussetzung hierfür seien ein tiefgreifendes Wissen über das Ökosystem, Vulnerabilität und die vorhandenen Abhängigkeiten.
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Julia Hess
Digitale Souveränität oder auch Strategische Autonomie stellen mit Blick auf die Komplexität und Diversität verschiedener Technologie-Ökosysteme kein geeignetes Policy Goal dar. Mit Fokus auf die transnationale durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägte Halbleiter-Wertschöpfungskette wäre keine Region auf der Welt in der Lage, alle Produktions- und Prozessschritte lokal durchzuführen.
Lukas Klingholz, Leiter Cloud & Künstliche Intelligenz, Bitkom e.V., Berlin, stellte in seinem Vortrag eine Umfrage der Bitkom zur Digitalpolitik Deutschlands vor. Daraus ging hervor, dass die Mehrheit der befragten Unternehmen sich mehr digitale Souveränität für Deutschland wünschen. An zweiter Stelle steht der Wunsch, dass Deutschland sich für eine Gleichberechtigung der EU beim Handel mit China und den USA einsetzt. Platz drei bildet schließlich der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit der Wirtschaft vom Ausland. Um diese Ziele zu erreichen, sieht Bitkom die folgenden Schlüsseltechnologien als relevant an: Künstliche Intelligenz, Sicherheitstechnologien, Digitale Identitäten und Plattformen, Blockchain und Distributed Ledger Technologien. Nötige Infrastrukturen seien in diesem Zusammenhang Kommunikationssysteme und -netze, Rechenzentren und Cloud-Infrastruktur. Bezüglich Hardware wären Hochleistungsrechner und Quantencomputer sowie Mikro- und Nanoelektronik wichtig.
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Lukas Klingholz
Im Kern ist Digitale Souveränität die Möglichkeit zur unabhängigen digitalen Selbstbestimmung. Aus Perspektive der Digitalwirtschaft bedeutet das vor allem, eigene Gestaltungs- und Innovationsspielräume zu erhalten, gegenseitige Abhängigkeiten und Partnerschaften zu gestalten sowie einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. Wirtschaft und öffentlicher Sektor brauchen leistungsfähige, sichere und vertrauenswürdige digitale Technologien, um innovative Produkte und Dienstleistungen anzubieten und effiziente Prozesse zu realisieren.
Gemeinsames Rechts- und Wertesystem als globaler Standortvorteil des Technologieraums Europa?
IT-Jurist und Verfassungsrichter Dirk Heckmann, Lehrstuhl für Recht und Sicherheit der Digitalisierung, TUM Center for Digital Public Services, München, betonte, dass Digitale Souveränität das Spiegelbild der Volkssouveränität unter den Bedingungen allgegenwärtiger Digitalisierung sei. Die Kernfrage laute daher: „Wie komme ich von der normativen Kraft des Faktischen zur faktischen Kraft des Normativen?“
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Dirk Heckmann
Digitale Souveränität ist das Spiegelbild der Volkssouveränität unter den Bedingungen allgegenwärtiger Digitalisierung. Die Kernfrage lautet: Wie komme ich von der normativen Kraft des Faktischen zur faktischen Kraft des Normativen?
In ihrem Vortrag sprach Jessica Heesen, Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Eberhard Karls Universität Tübingen, von der Überforderung der Individuen und den unterschiedlichen Chancen der Einzelnen, was Ausstattung und Bildungsstand betrifft. Digitale Souveränität sei ein normativ stark aufgeladenes Konzept. Eine Regulierung für Souveränität müsse die Verantwortung gegenüber dem Individuum im Blick haben, aber nicht dem Individuum die Verantwortung für digitale Souveränität alleine überlassen.
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Jessica Heesen
Digitale Souveränität sollte ein Konzept zur gerechten Verteilung von Ressourcen und von Selbstbestimmung sein. Ist Digitale Souveränität fair verteilt, kann sie für Pluralität und Mitbestimmung in einer digitalen Weltgesellschaft stehen.
Julia Pohle, Forschungsgruppe Politik der Digitalisierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, sagte, dass eine Digitale Souveränität der EU nicht möglich wäre, da es kein gemeinschaftliches Verständnis diesbezüglich gäbe. Das gemeinsame Ziel würde fehlen – das stelle ein zentrales Hindernis für die digitale Autonomie Europas dar. Im Gegensatz dazu hätten China und Russland sehr genaue Ziele. Der EU fehle ein Fahrplan, eine gemeinsame Definition, schloss Julia Pohle.
Vom Schlagwort zur möglichen Legitimationsgrundlage. Zur demokratietheoretischen Bedeutung digitaler Souveränität
Über mögliche Hebel zur Erlangung digitaler Souveränität sprach Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, in ihrem abschließenden Vortrag. Solche Hebel seien beispielsweise die Beherrschung geeigneter Technologien, ein abgesicherter Zugang zu Daten, die Kompetenz digitale Technologien zu bewerten und die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt. Als möglicher Reibungspunkte identifizierte sie die Uneinigkeit der Industriepolitik und das Spannungsverhältnis innerhalb der EU, die einerseits als Staatenverbund agiert, andererseits aber immer den Wunsch nach Unabhängigkeit der einzelnen Länder berücksichtigen müsse.
Videointerview mit Ursula Münch zur Digitalen Souveränität Europas
Wege aus der technologischen Abhängigkeit – Fallbeispiele Quantentechnologien
Für acatech Mitglied Tommaso Calarco, Institutsleiter Quantum Control, Forschungszentrum Jülich ist eine verstärkte Einbindung der Öffentlichkeit erforderlich, um vertrauenswürdige Strukturen gestalten zu können. Ohne Vertrauen drohe der Technologie eine Entpersonalisierung und damit der digitalen Gesellschaft eine Entdemokratisierung.
Smart City / Smart Region: Digitale Transformation von Städten und Regionen
Matthias Brucke, Gründer und Inhaber embeteco, Oldenburg, sagte, ein sicherer digitaler öffentlicher Raum sei zentral für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben. Er bilde die Voraussetzung für demokratischen Diskurs und Meinungsbildung. Das bedeute die Herausforderung einer dauerhaften Verankerung europäischer Werte wie Transparenz, Offenheit und Schutz der Privatsphäre als Prinzipien auch des digitalen Raums. Das europäische Digitalpaket mit DSGVO, DMA, DAS und den noch zu folgenden Regelungen stimme in dieser Hinsicht zuversichtlich, so Matthias Brucke.
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Matthias Brucke
Im Bereich Smart City und Smart Region werden die Daten von Bürgerinnen und Bürgern auf Digitalen Plattformen gespeichert und verarbeitet. Daher ist es extrem wichtig, darauf zu achten, die Transformation unserer Gesellschaft im Sinne einer Digitalen Souveränität verantwortungsvoll und gemeinschaftlich zu gestalten.
Datenräume: GAIA-X als europäische Cloud-Alternative
Als Aushängeschild auf dem Weg zu einem souveräneren Digitalraum Europa gelte das Projekt GAIA-X, sagte Peter Kraemer, Projektleiter GAIA-X bei acatech. Im Bereich des Cloud-Computing solle es die Grundlage für eine leistungs- und wettbewerbsfähige, zugleich sichere und vertrauenswürdige Dateninfrastruktur liefern. Ziel sei es nicht einen europäischen Cloud-Anbieter zu etablieren, sondern vielmehr einen dezentralen, inklusiven Rahmen für Datenräume zu entwickeln, und dadurch Alternativen zu marktdominierenden Cloud-Anbietern wie den amerikanischen oder chinesischen Hyperscalern zu schaffen.
Statement zur Digitale Souveränität Europas von Peter Krämer
Offenheit, Transparenz und Selbstbestimmung sind für vertrauenswürdige Interaktion im digitalen Raum unabdingbar – nur mit Infrastrukturen, die diese Anforderungen erfüllen, werden wir in Europa die digitale Transformation wirklich meistern können. Daher entwickeln wir mit Gaia-X das Rahmenwerk, das die Einhaltung dieser Werte sichert.
Durchs Programm führten Marc-Denis Weitze, acatech Geschäftsstelle (rechts) und Andreas Kalina, Akademie für Politische Bildung (links), Mitautor des Tagungsberichtes.