Akademietag: Warum Biotechnologie immer wichtiger wird
Hamburg, 28. Mai 2019
Der acatech Akademietag gastierte am 24. Mai 2019 in Hamburg. Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, begrüßte die Gäste und gab einen Überblick der vielfältigen Biotech-Forschung in der Hansestadt. Die Referentinnen und Referenten der wichtigsten Mitglieder-Veranstaltung von acatech beleuchteten Anwendungen von künstlichen Organgeweben über neue Medikamente, Spinnenseide oder Löwenzahnkautschuk, aber auch politische und gesellschaftliche Fragen rund um die Biotechnologie. Dieter Spath sagte im Fazit der Veranstaltung: Es werde nicht alles bio, die Biotechnologie könne aber unser Wirtschaftssystem elementar verändern.
In Hamburg ist ein Biotech-Ökosystem aus rund 500 Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Universitäten gewachsen. Deshalb passte das Thema des acatech Akademietags in besonderer Weise zum gastgebenden Bundesland: Biotechnologie. Die Keynote hielt Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Der Erste Bürgermeister sieht den technologischen Fortschritt als eine große Chance – zum Beispiel, wenn es um die Chancen der Digitalisierung, die bessere Erkennung und Behandlung von Krankheiten, Mobilität oder den Klimawandel geht. Große Entdeckungen werden laut Peter Tschentscher heutzutage in Laboren und Forschungszentren gemacht. Im Hamburg herrscht nach seinen Worten seit jeher eine große Veränderungs- und Innovationsbereitschaft. Technologischer Fortschritt sei in dieser Hinsicht keine Problemquelle, sondern im Gegenteil Lieferant von Lösungsansätzen.
Lothar Dittmer, Vorsitzender des Vorstands der Körber-Stiftung, erläuterte, dass sich die rasante Entwicklung der Biotechnologie im Aufmerksamkeitsschatten der Digitalisierung abspiele. Die Technologie berge immense Chancen, werde aber auch neue ethische Fragen und Risikodebatten aufwerfen, da sie den direkten Zugriff auf die Baupläne der Natur erlaubt.
Bewusst stand deshalb die gesellschaftliche Perspektive auf das Thema am Anfang des Akademietags. „Nur ein Viertel der Menschen glaubt, dass Technik mehr Probleme behebt, als sie schafft“, zitierte Lothar Dittmer aus dem TechnikRadar von der Körber-Stiftung und acatech. Die Biotechnologie hat mit einer noch stärkeren Skepsis zu kämpfen. Beispielsweise lehnt dem TechnikRadar zufolge eine Mehrheit der Deutschen die gezielte genetische Veränderung von Nutzpflanzen zur Lebensmittelversorgung ab. Lothar Dittmer nannte daher vier Bedingungen, unter denen kontroverse technische Entwicklungen auf Akzeptanz bei den Menschen stoßen können: 1. Es sollte ausreichend und transparent informiert werden. 2. Die Akzeptanz steigt bei einem nachweisbaren gesellschaftlichen Nutzen – allein ökonomische Ziele reichen nicht. 3. Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern statt durchregieren. 4. Emotionale Zugänge, statt rein kognitive Ansätze.
Edwin Kreuzer, Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, sprach in seinem Geleitwort über die Rolle der Wissenschaftsakademien in der Kommunikation neuer Technologien. Transparenz und die offene Aufklärung von Chancen und Risiken sind für ihn zentral in der Kommunikation von Wissenschaftsthemen. Die Aufgabe der Akademien: Sie sprechen faktenbasiert und differenziert Empfehlungen aus. Dabei sollten sie stets positive und negative Konsequenzen einer Technologie erörtern – nicht zuletzt, um das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken.
Den fachlichen Teil der Veranstaltung läutete Thomas Scheper von der Universität Hannover ein. Er erläuterte Digitalisierungskonzepte in der Biotechnologie und zeigte, wie reale Prozesse virtuell abgebildet werden, um die Herstellung von biotechnologischen Produkten zu unterstützen. Wichtig ist laut Thomas Scheper, dass die reale Prozessarchitektur ständig mit der virtuellen Prozessarchitektur in Verbindung bleibt. Sein Vortrag zeigte, wie stark Methoden der Miniaturisierung, Automatisierung und Virtualisierung die Biotechnologie beflügeln. Technologien der Digitalisierung und Industrie 4.0 werden immer stärker auch in den Biotechnologie-Laboren genutzt und verleihen der Biotechnologie einen zusätzlichen Innovationsschub.
Gesellschaft: Vom Stammtisch zum runden Tisch
Ortwin Renn (IASS Potsdam – Institute for Advanced Sustainability Studies), Hermann Requardt (acatech Vizepräsident) und Daniela Jansen (Dassault Systemes) diskutierten über die gesellschaftliche Akzeptanzfrage. Einig waren sie sich darin, dass Bürgerinnen und Bürger frühzeitig, neutral und umfassend einbezogen werden müssen. Zentral sei eine offene Kommunikation über Nutzen und Risiken. Dabei sollten Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und verschiedene Organisationen zusammenarbeiten. Ortwin Renn fasste das Anliegen der Diskussionsrunde mit den Worten „vom Stammtisch zum Runden Tisch“ zusammen.
Biotechnologie für die Gesundheit
Wie Biotechnologien den Gesundheitsbereich verändern, beleuchteten drei Vorträge aus unterschiedlichen Perspektiven. Klaus Cichutek, Präsident des Paul Ehrlich Instituts, sprach über die Herausforderungen bei der Entwicklung und Regulation biomedizinischer Arzneimittel. Andrea Robitzki, Universität Leipzig, stellte biotechnologische Instrumente für die Medizin vor. Sie fokussierte dabei besonders auf die Interdisziplinarität zwischen Lebens- und Technikwissenschaften. Durch die Verbindung von Zellen und Gewebe mit Mikrochips entstehen 3D-Modelle, die z.B. für die Tumor- und Alzheimerdiagnostik oder die Simulation von Krankheitsverläufen geeignet sind. Arne Skerra von der TU München zeichnete historische Entwicklungen in der Biotechnologie nach. Ein Beispiel: Die Anzahl der zugelassenen Biopharmazeutika ist in den letzten beiden Jahrzehnten rasant angewachsen. Bereits heute haben Biopharmazeutika einen Marktanteil von 26% am Gesamtmarkt für Medikamente in Deutschland. Arne Skerra betonte, dass Künstliche Intelligenz dort hilft, wo diverse Optionen für Wirkstoffe auf spezifische Krankheitsbilder treffen. Maschinenintelligenz könne bei der Suche nach der richtigen Therapie entscheidend helfen.
Biotechnologische Verfahren
Im letzten Veranstaltungsblock standen industrielle biotechnologische Anwendungen im Mittelpunkt. „Gib Gas für neue biotechnologische Prozesse“ hieß der Vortrag von Andreas Liese und An-Ping Zeng von der Technischen Universität Hamburg. Neben der Bedeutung der Interdisziplinarität in der Biotechnologie betonten sie das Potenzial von Gasen als nachhaltige und kostengünstige Rohstoffe für Produktionsprozesse/neue Bioprozesse.
Im mecklenburgischen Anklam entsteht aus russischem Löwenzahn ein alternativer Kautschuk für Auto- und Fahrradreifen. Dirk Prüfer von der Universität Münster präsentierte das Projekt. In Kooperation mit Continental entstanden bereits erste Premium-Reifen aus heimischer Löwenzahn-Ernte. Damit entsteht eine nachhaltige Alternative zum nach wie vor unverzichtbaren Naturkautschuk, der aus Kautschukbäumen hergestellt wird und der ökologische Probleme, Preisschwankungen und Abhängigkeiten mit sich bringt. Der nächste Schritt sei der Aufbau einer größeren Pilotanlage.
In Martinsried bei München wird das Bakterium Escherichia coli zu einer Minifabrik für Spinnenseide: Wie dies funktioniert zeigte Thomas Scheibel, von der Universität Bayreuth. Hier machen sich die Forscher altes Wissen über Spinnennetze zu Nutze. Diese seien zu Zeiten Shakespeares genutzt worden, um Wunden zu heilen. Eine mögliche Anwendung ist ein Schuh, dessen Obermaterial aus Spinnenseide und damit zu 100 Prozent aus Proteinen besteht. Der Schuh ist dadurch 15 Prozent leichter als andere Schuhe. Andere Anwendungen setzen Spinnenseide als hochstabilen Werkstoff ein, beispielsweise in Flugzeug-Flügeln. Ebenso bringe biotechnologisch hergestellte Spinnenseide mit ihren wundheilenden Eigenschaften Fortschritte im medizinischen Tissue Engineeing, also als künstliches Gewebematerial.
Biotechnologie kann unser Wirtschaftssystem verändern
acatech Präsident Dieter Spath fasste den Tag und die Diskussionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen:
Biotechnologie hat das Potenzial, unser Wirtschaftssystem elementar zu verändern. Ob sich biotechnologische Produkte und Verfahren in Deutschland durchsetzen, ist noch ungewiss. Auf unserem Akademietag haben wir heute eine offene Debatte geführt über industrielle Anwendungen, die bereits bestehen und über Entwicklungen, die möglich wären. Diese Debatte sollten wir in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tragen – denn letztlich entscheiden der Nutzen und die Akzeptanz der Anwendungen über den Erfolg der Technologie.
Impressionen von der Veranstaltung