Das Risikoparadox – vermeintliche Gefahren und tatsächliche Bedrohungen

München, 22. Oktober 2021
Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten ─ Berichterstattungen über Kriminalität, Genmais und Elektrosmog schaffen den Eindruck, dass unser Leben von Tag zu Tag unsicherer, gefahrenreicher, riskanter wird. Für den Risikoforscher und Techniksoziologen Ortwin Renn sind diese Alltagsbefürchtungen Nebelkerzen: Tatsächlich steige die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland beständig, in vielerlei Hinsicht waren wir nie sicherer und gesünder. Während viele Menschen sich also unnötig um vermeintliche Gefahren sorgen, verschließen wir die Augen vor den tatsächlichen, existentiellen Bedrohungen. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten ─ und was uns wirklich bedroht ─, erläuterte Ortwin Renn am 12. Oktober bei acatech am Dienstag. Mehr als 800 Teilnehmende verfolgten die Online-Veranstaltung, die in Kooperation mit „vhs.wissen live“ stattfand.
Zum Vortrag (Audio) von Ortwin Renn:
Veröffentlicht am 10. November 2021
Dauer: 1 Stunde 7 Minuten und 14 Sekunden
Für Ortwin Renn ist die Lebenserwartung ein zentrales Maß, um die Bedrohungslage für den Menschen richtig einschätzen zu können. Diese ist in den vergangenen 50 Jahren in fast allen entwickelten Ländern kontinuierlich gestiegen. Im Hinblick auf das individuelle Verhalten sind Tabak- und Alkoholkonsum sowie Bewegungsmangel nach wie vor die konkurrenzlos größten Risikofaktoren. Doch Studien hätten gezeigt, so Ortwin Renn, dass Risiken, die eine Änderung des eigenen Verhaltens notwendig machen würden, tendenziell unterschätzt werden. Dies sei nur einer der psychologischen Mechanismen, die uns im Umgang mit echten Risiken im Weg stehen. Die Menschen seien insbesondere schlecht ausgestattet, sich rational mit komplexen, vernetzen und systemischen Risiken zu befassen. Der Klimawandel sei ein Beispiel für diese Art von Risiko.
Komplexe, vernetzte und systemische Risiken wie der Klimawandel zeichneten sich durch räumlich und zeitlich entkoppelte Wechselwirkungen, Teufelskreise und Wirkungsketten aus, sagte Ortwin Renn. Solche Zusammenhänge seien zwar stochastisch beschreib- und belegbar, für das menschliche Denken sei diese Mittelbarkeit aber schwer zu verarbeiten: Der Zusammenhang zwischen einer motorisierten Spritztour am Bodensee und einem Tropensturm am anderen Ende der Welt sei zum Beispiel intuitiv ‚unplausibel‘. Dies führe zu einer Unterschätzung solcher Risiken, sagte er. Des Weiteren sei diese Art von Problemen oft durch Nicht-Linearität gekennzeichnet. Im Gegensatz zu regelmäßig und proportional zum Input eintretenden Effekten spielten bei systemischen Risiken oft Kipppunkte eine Rolle: Wie bei dem sprichwörtlich überlaufenden Fass werden Auswirkungen erst ab einer bestimmten Schwelle, dann aber oft schlagartig und unumkehrbar, bemerkbar. Da Menschen evolutionär aber auf Lernen durch ‚trial and error‘ ausgelegt seien, führe die Abwesenheit von frühzeitigem Feedback zur Unterschätzung von katastrophalen Risiken, so Ortwin Renn weiter. Dazu sei auch das weit verbreitete gesellschaftliche und politische Silodenken und -handeln eine große Hürde bei der Bekämpfung solcher Risiken. Es liege in der Natur der Sache, dass man komplexen, vernetzten und systemischen Risiken nicht mit isolierten Einzelinterventionen beikommen könne.
Neben dem Klimawandel nannte Ortwin Renn auch soziale Ungleichheit als ein ernstzunehmendes systemisches Risiko. So sei in den USA, in denen der Wohlstand zunehmend extrem ungleich verteilt ist, die durchschnittliche Lebenserwartung zuletzt wieder gesunken. Die Frage, ob sich diese Risiken absehbar auch negativ auf die hiesige Lebenserwartung auswirken würden, wollte Ortwin Renn jedoch nicht abschließend beantworten. Die Vorhersagen dazu gingen auseinander, er selbst sei eher optimistisch. Er glaube, dass eine Bildungsinitiative für den richtigen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten bessere Voraussetzungen für die notwendigen politischen Entscheidungen schaffen könnte. Der wohlweisliche Umgang mit Risiken, so schloss Ortwin Renn die Veranstaltung, könne ein Mittel sein, sich in seinem Metier den Optimismus zu erhalten.
Link zum Buch „Das Risikoparadox“ von Ortwin Renn
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