Kernspaltung im Energiesystem – technische Herausforderungen, neue Entwicklungen und globale Perspektiven

München, 29. November 2023
Ist Kernenergie ein möglicher Baustein in einem klimaschonenderen Energiesystem? Bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. Das zeigte sich auch bei einer weiteren online Ausgabe von acatech am Dienstag am 21. November, diesmal in Kooperation mit der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW).
acatech Präsident Jan Wörner bedankte sich in seiner Begrüßung bei der SATW für die gemeinsame Ausrichtung der Veranstaltung und ging anschließend näher auf die Begriffe „Kernspaltung“ und „Kernfusion“ ein, die beide für verschiedene Möglichkeiten der Energiegewinnung stehen: Bei der Kernspaltung, die zur Erzeugung von Kernenergie genutzt wird, werden Atomkerne gespalten. Kernfusion bezieht sich dagegen auf das Verschmelzen (Fusion) kleinerer Atomkerne mit Hilfe von Lasern zu größeren Atomkernen. Beide Prozesse seien, so Jan Wörner weiter, auch in der Natur zu beobachten: Kernspaltung im Inneren der Erde (damit für rund die Hälfte der Geothermie verantwortlich), Kernfusion in der Sonne.
Innovationsfeld Nukleartechnologien
Wolfgang Kröger, emeritierter Professor der ETH Zürich für Sicherheitstechnik/Risikoanalytik und Mitglied der SATW, lieferte einen Überblick über den aktuellen Stand und die Entwicklung im Bereich der Nukleartechnologien. Durch die politische Entscheidung, fossile Energieträger – bei stark steigendem Strombedarf – sukzessive zu ersetzen, seien die Nukleartechnologien und hier vor allem die Technologie der Kernspaltung wieder stärker in den Fokus gerückt. Es gehe nun darum, alle Optionen für die Energiegewinnung in Bezug auf ihre Stärken und Schwächen zu beleuchten.
Rund 10 Prozent des weltweit erzeugten Stroms aus werden heute aus Nuklearenergie bzw. Kernenergie gewonnen. In Deutschland ist der Anteil nach Abschaltung der letzten Atomkraftwerke im Jahr 2023 verschwindend gering, während er in der Schweiz 29 Prozent, in Frankreich sogar 69 Prozent ausmacht.
Vorteile der Nukleartechnologien, so Wolfgang Kröger weiter, seien die niedrigen CO2-Emissionen, die denen der Windenergie entsprächen und um den Faktor vier niedriger seien als bei Photovoltaik auf Dächern. Der Brennstoff (U-235 angereichertes Natururan) habe darüber hinaus eine unvergleichlich hohe Energiedichte, so dass der Material- und Flächenbedarf gering sei. Zudem seien Uranvorkommen auf viele Länder verteilt und entsprechend Ressourcenengpässe nicht absehbar, so der Experte.
Dennoch, so räumte Wolfgang Kröger ein, blieben Sicherheitssysteme sowie die anspruchsvolle Entsorgung und Endlagerung der bei der nuklearen Energiegewinnung entstehenden Abfallstoffe eine große Herausforderung.
Fortschritte der Nukleartechnologie
In der Kerntechnik gibt es global viele neue technische Entwicklungen. Die heute gängigen Leichtwasserreaktoren bezeichnet man als „Generation II“. Unter „evolutionären“ Designs der Generation III versteht man Weiterentwicklungen mit aktiven Sicherheitssystemen zum Ausschluss von Kernschmelzunfällen und einer Containment-Auslegung mit passiven Systemen zur Unfallbeherrschung und Vermeidung von Freisetzungen. „Revolutionäre“ Designs (Generation IV) besitzen passive Sicherheitseinrichtungen, die keinen Notstrombedarf haben und kein aktives Eingreifen benötigen, um folgenschwere Unfälle zu vermeiden. Sie verfügen über Kühlmittel wie Flüssigmetalle (Natrium, Blei) oder Salzschmelzen. Wolfgang Kröger benannte als weitere „revolutionäre“ Designs Accelerator-Driven Systems und den Dual Fluid Reaktor. Hier sind Brennstoffteilchen in einer Salzschmelze verteilt. Als Hoffnungsträger gelten „Small Modular Reactors“, wobei sich das „small“ dabei auf die Gesamtleistung bezieht. Es muss sich noch zeigen, ob und in welchen Anwendungen diese Anlagen wirtschaftlich zu betreiben sind, möglicherweise zur Erzeugung von Prozesswärme oder zur Wasserstoffproduktion.
Die Rolle der Kernspaltung im Stromsystem
Jonas Savelsberg, Ökonom und Senior Researcher am Energy Science Center sowie am Center for Energy Policy and Economics der ETH Zürich, thematisierte die Rolle der Kernenergie im (europäischen) Stromsystem, in dem der Anteil erneuerbarer Energien stetig größer werde. Weltweit steige die Nachfrage nach Wind- und Solarenergie sowie nach Batteriespeichersystemen – fallende Preise seien entsprechend die Folge. In vielen Regionen der Welt seien Wind- und Photovoltaikkraftwerke bereits heute günstiger als neue Kohle- oder Gaskraftwerke. Die Kosten der Kernenergie dagegen seien in den vergangenen Jahren gestiegen.
Kernenergie und Gesellschaft
Sophie Kuppler, Soziologin und Leiterin der Forschungsgruppe „Endlagerung als soziotechnisches Projekt“ am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) / Karlsruher Institut für Technologie (KIT), legte im Gespräch zu den gesellschaftlichen Implikationen der Kernenergie dar, dass Technologien und das Soziale stets untrennbar miteinander verbunden sind: Nicht immer setze sich die (aus Sicht von Wissenschaft und Technik) „beste“ Technologie durch. Stattdessen spielten bei der Technikentwicklung Werte oder die Interessen bestimmter sozialer Gruppen eine wichtige Rolle. Mit der Kerntechnik verbänden die Deutschen einerseits eine militärische Nutzung und andererseits großtechnische Versprechungen. Derzeit werde Kernenergie auch als Rettungsanker in der Klimakrise diskutiert, wobei Sicherheits- und Risikoaspekte, geopolitische Abhängigkeiten oder Fragen der Endlagerung aber kaum Berücksichtigung fänden. Sicherlich sei die Diskussion zur Kernenergie in Deutschland „speziell“, aber ebenso „speziell“ sei diese in jedem anderen Land mit ihren spezifischen kulturellen Hintergründen.
Jan Wörner betonte in seinem Kommentar die Vielfalt relevanter Aspekte im Spannungsfeld von Technik und Gesellschaft, insbesondere Klimaneutralität, ökonomische Aspekte und Fragen der Souveränität. Es handele sich bei Kernenergie auf jeden Fall um ein Feld der Technikwissenschaften mit großem Forschungsbedarf.
Lebhafte Diskussion in Wissenschaft und Gesellschaft
In der von Marc-Denis Weitze, acatech Geschäftsstelle, moderierten Diskussion wurden die Kostenschätzungen (für Bau und Betrieb der Kraftwerke) oder die Preisentwicklung verschiedener Energiearten aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Skepsis wurde geäußert, inwieweit Erneuerbare Energien alleine den globalen Energiebedarf decken können. Die Situation der Kernenergie sei in Deutschland speziell, andere Länder gingen hier andere Wege.
Aussagen über die Zukunft – hier zum Anteil der Kernenergie am Energiemix der Zukunft – sind immer problematisch, stellte Sophie Kuppler fest. Man könne verschiedene Alternativen beschreiben und Handlungsoptionen und damit verbundene Entwicklungen beschreiben.
Wolfgang Kröger liest aus zahlreichen Studien, dass mit dem Ziel einer CO2-freien Stromerzeugung global ein höherer Anteil der Kernenergie zu erwarten sei. Europa habe allerdings in den letzten Jahren den Anschluss verloren und verlernt, rasch Kernkraftwerke zu bauen. Hier sind neue Reaktortypen von großem Interesse, die sich teilweise in der Demonstrationsphase befinden (freilich nicht in Europa). Abhängigkeiten in der Brennstoffversorgung sieht er weniger, und in der Tiefenlagerung der radioaktiven Abfälle gebe es deutliche Fortschritte.
Beim Thema Kernenergie gingen die Meinungen eben weit auseinander, fasste acatech Präsident Jan Wörner die Veranstaltung abschließend zusammen. Umso wichtiger sei es, weiter zu diskutieren, neue Ansätze zu betrachten und intensiver zu forschen.
Weiterführende Informationen
SATW-Faktenblatt «Kernenergietechnologien: Überblick über den aktuellen Stand und die Entwicklung»