Wann stehen die ersten Pilzhäuser? Über die Potenziale der Pilzbiotechnologie
München, 23. Oktober 2023
Menschen leben von Geburt an mit Pilzen zusammen: Manche leben in, andere auf unseren Körpern. Wieder andere leben in Symbiose mit Pflanzen und versorgen diese mit Nährstoffen und Wasser aus der Erde – die Vielfalt der Pilze scheint grenzenlos. Die Pilzbiotechnologie erforscht heute, wie Stoffwechselpotenziale von Pilzen in einer nachhaltigen und kreislauffähigen Bioökonomie eingesetzt werden können. Entstehen in Zukunft nicht nur Medikamente, Enzyme und Biokraftstoffe aus Pilzen sondern auch Kleidung, Möbel oder gar Häuser? Wie das gelingen könnte, und warum hier eine intensive Zusammenarbeit von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft so wichtig ist, erläuterte die Biotechnologin und Künstlerin Vera Meyer am 17. Oktober bei acatech am Dienstag in Kooperation mit vhs.wissen live.
Zu Beginn der digitalen Ausgabe von acatech am Dienstag verwies acatech Präsident Jan Wörner darauf, wo wir im Alltag überall mit Pilzen in Kontakt kommen: Die Ästhetik eines Fliegenpilzes, Schimmelpilze auf Brot oder schmackhafte Champignons. Doch wie kann man die weit vielfältigeren Potenziale der Pilze nutzbar machen?
Zum Vortrag (Audio) von Vera Meyer:
Dauer: 1 Stunde 8 Minuten und 42 Sekunden
Etwa sechs Millionen Pilzarten, mit unterschiedlichen Eigenschaften, gibt es auf der Welt – dies entspreche ungefähr der Anzahl der Tierarten. Allerdings seien bisher rund neunzig Prozent der Pilzarten unbekannt. So begann acatech Mitglied Vera Meyer, Technische Universität Berlin, ihren Vortrag. Vera Meyer ist Wissenschaftlerin und Künstlerin und verbindet diese Transdisziplinarität in ihren Werken: Ihre Skulpturen wollen die Welt der Pilze näherbringen und stellen verschiedene Funktionen der Pilze dar. Beide Disziplinen haben ihrer Meinung nach viele Überschneidungen: in beiden mache man Experimente, erhebe Daten und werte diese aus, um herauszufinden, wie die Welt tickt.
Pilzbiotechnologie ist eine wesentliche Plattformtechnologie
Größtenteils besteht ein Pilz aus dem sogenannten Myzel, das sind fadenförmige Zellen, die sich als verzweigendes Geflecht unterirdisch ausbreiten. Dass Pilze alles organische als Nahrung nutzen können, macht sich die Industrie zu Nutze: Das Myzel werde isoliert und mit biotechnologischen Kultivierungsmethoden auf pflanzlichen Reststoffen wie Sägespänen oder Stroh zum Wachsen gebracht. Das Myzel verbindet die Pflanzenpartikel, indem es diese umschließt und in diese eindringt. Auf diese Weise entstehen Verbundwerkstoffe, sogenannte Komposite: Gepresst unter moderater Temperatur können solche Platten als Dämm- oder Baustoffe verwendet werden. Ferner kann diese vernetzende Eigenschaft des Myzels auch im Betonrecycling eingesetzt werden und dort als eine Art „biologischer Kleber“ verwendet werden.
Seit hundert Jahren ist die Pilzbiotechnologie eine wesentliche Plattformtechnologie. Die Pilzbiotechnologie von heute erforscht, wie Stoffwechselpotenziale von Pilzen für eine nachhaltige und kreislauffähige Bioökonomie nutzbar gemacht werden können. Unzählige Produkte profitieren von ihr, das weltweite Marktpotenzial für Pilzprodukte wird Studien zufolge um ein Vielfaches größer eingeschätzt als das der Auto- oder Pharmaindustrie. Auch können viele bisher erdölbasierte Materialien durch Pilze ersetzt werden, wie Vera Meyer beschrieb. Bald würden nicht mehr nur Medikamente, Enzyme und Biokraftstoffe mit Pilzen hergestellt, sondern auch Kleidung, Möbel und Häuser. Wie das gehen könne erläuterte die Biotechnologin anhand des Projektes MY-CO SPACE: einer Raumskulptur aus Pilzmaterialien, die das Leben in einem Holz-Pilzhaus erlebbar und fühlbar zu machen soll.
Nach einer Präsentation an verschiedenen Orten im Freien und in Innenräumen stehe nun die Analyse möglicher Materialveränderungen an. Grundlage zur Herstellung der verwendeten Myzel-Elemente ist der Zunderschwamm (Fomes fomentarius). Er ist durch seine Eigenschaften (regional verfügbar, sehr leicht und sehr stabil) sehr gut zur Herstellung von Baumaterialien geeignet. Bis 2030 soll das erste Pilzhaus stehen, prognostizierte Vera Meyer abschließend. Projekte wie MycoStories geben auf Social Media Einblicke in die Herstellungsprozesse solcher Materialien.
Die Zuhörenden interessierten sich in der anschließenden Fragerunde insbesondere für das Leben in einem Holz-Pilzhaus: Wie gesund ist es in einem Holz-Pilzhaus zu leben? Wieviel kostet es? Ist es erdbebensicher? Kann es abbrennen? Können die Myzel-Elemente von einem Pilz befallen werden? Vera Meyer geht davon aus, dass ein Holz-Pilzhaus wohl ähnlich viel kosten werde, wie ein Standardeinfamilienhaus, da die genutzten Rohstoffe Abfallprodukte aus der Agrar- und Forstindustrie sind. Für konkrete Schätzungen fehle es aber noch an großskaligen Produktionsprozessen. Es sei gesundheitlich unbedenklich, da nicht der Fruchtkörper sondern das Myzel verwendet werde, dieser Teil der Pilze bildet keine Sporen. Außerdem werde das Material thermisch so behandelt, dass lebende Zellen getötet werden. Sehr wohl könnten die Myzel-Elemente, wenn sie sehr feucht werden (z.B. bei einer Überschwemmung) von einem anderen Pilz befallen werden, jedoch würden auch Imprägnierungsmethoden mitentwickelt. Die Häuser ließen sich im Schadensfall schnell wieder neu und ressourcenschonend aufbauen.
Weiterführende Informationen zu Projekten von Vera Meyer:
- MY-CO SPACE (2020 – 2024)
- MY-CO BUILD (2021 – 2024)
- MY-CO PLACE (2023)
Literatur:
Engage with Fungi
Meyer, Vera; Schmidt, Bertram; Pohl, Carsten; Schmidts, Christian; Hoberg, Friederike; Weber, Birke; Stelzer, Lisa; Angulo Meza, Angely; Saalfrank, Cornelia; Sharma, Sunanda; Weinhold, Martin; Glocksin, Bernhard; Rosetto, Sabrina; Syperek, Markus; Krause, Jens; Volpato, Alessandro; Noonan, Logan; Nazarek, Annemarie; Göngrich, Erik; Wilhelm, Nora; Heber, Lena; Pfeiffer, Sven; Rauwolf, Gudrun; Meyer, Vera; Pfeiffer, Sven
Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie tragen wir Verantwortung für die Zukunft der Erde, für unsere Umwelt, für uns Menschen? Indem wir die Kreativitätsmotoren Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft zusammenführen, um gemeinschaftlich und transdisziplinär Visionen für eine nachhaltige Zukunft und beschreitbare Wege in eine solche zu erarbeiten.