3 Fragen an Frank Piller zum Industrial Metaverse und seiner aktuellen und potenziellen Anwendung und Auswirkung
Prof. Dr. Frank Piller, Professor für Management und einer der Leiter des Instituts für Technologie- und Innovationsmanagement (TIM) an der RWTH Aachen.
Bild: © RWTH Aachen
München, 14. Juni 2023
1. Mit dem Industrial Metaverse gehen viele Versprechungen einher. Welche Anwendungsfälle und Szenarien sehen Sie für das Industrial Metaverse in verschiedenen Industriezweigen und wie könnten sie die Art und Weise verändern, wie Unternehmen in diesen Branchen arbeiten?
Das „Industrial Metaverse“ bezieht sich auf ein virtuelles Universum, das die physische und digitale Welt miteinander verbindet und in dem sich Menschen, Maschinen, Informationen und Dienstleistungen in Echtzeit bewegen und interagieren können. Ideen für Anwendungsfälle gibt es viele — auch wenn ich sicher bin, dass sich wie immer die „Killerapplikation“ erst in der Nutzungsphase selbst ergibt.
Einige Beispiele außerhalb der Fabrik, dazu siehe die nächste Frage:
Bauplanung und Infrastrukturindustrien:
Im Baugewerbe (oder auch der Smart City der Zukunft) könnte das Metaverse für virtuelle Rundgänge und Simulationen genutzt werden. Dies könnte dazu beitragen, Fehler in der Planung zu erkennen und zu korrigieren, bevor der tatsächliche Bau beginnt. Außerdem könnten Kunden durch virtuelle Rundgänge einen besseren Eindruck von fertigen Projekten bekommen — und wir reden endlich nicht mehr aneinander vorbei.
Einzelhandel:
Im Einzelhandel könnte das Metaverse für ein verbessertes Einkaufserlebnis genutzt werden. Kunden könnten Produkte in einer virtuellen Umgebung ausprobieren, bevor sie diese kaufen. Dies könnte dazu beitragen, die Kundenzufriedenheit zu verbessern und die Retourenquote zu senken. Dieses Beispiel kann aber auch zeigen, dass das Metaverse nicht rein VR ist. Denn durch Augmented Reality können auch die Innenstädte digital enhanced werden. Wie wäre es mit einem Graffiti-Filter, der entweder Graffiti ausblendet oder aber — je nach Userwunsch — eine langweilige deutsche Fußgängerzone in ein Streetart-Paradies verwandelt.
Recruitment:
Ein ganz anderer Anwendungsfall, den ich gerade an der RWTH beobachte, sind Recruitmentevents und Job-Börsen im Metaverse (oder zu mindestens VR- oder 3D-Umgebungen). Im Kampf um die besten Absolvent*innen nutzen immer mehr Unternehmen dieses Format, nicht nur, um sich von der Konkurrenz zu differenzieren, sondern auch, da dies auch ganz andere Optionen bietet, sich darzustellen und niedrigschwellig, aber sehr interaktiv und persönlich mit Studierenden in Kontakt zu kommen — und das zu deutlich geringeren Kosten als ein Event vor Ort. Und das geht dann auch weiter: Vor einigen Wochen durfte ich das erste Betriebsratsbüro der IG Metall im Metaverse besuchen — die das Thema übrigens sehr konstruktiv angeht und sich bereits mit der Arbeit im Metaverse proaktiv auseinandersetzt.
Schulung:
Ich habe in den letzten drei Jahren mindestens 300 Stunden komplett in VR unterrichtet — viele meiner Executive Kurse unterrichte ich inzwischen komplett in VR. Das geht super und auch auf C-Level (ein Kurs ist i.d.R. 5 Tage á 5 Stunden). Großer Vorteil: Viel bessere Interaktion und Breakouts als in Teams oder Zoom, und vor allem: „es gibt keinen zweiten Screen“ — die Teilnehmer*innen sagen uns oft, dass das VR Training wie ein Spa-Aufenthalt war, da man sich mal auf eine Sache fokussieren musste.
2. Was sind die potenziellen Auswirkungen des Industrial Metaverse auf traditionelle Fertigungsprozesse und das Supply Chain Management?
In der Fertigungsindustrie kann das Metaverse für virtuelle Simulationen und Modellierungen genutzt werden und digitale Zwillinge erweitern. Dies kann dazu beitragen, die Effizienz und Präzision von Produktionsprozessen zu verbessern, indem verschiedene Szenarien durch alle Akteure durchgespielt werden — und so viel mehr iterative „trial and error“ Prozesse möglich sind, bevor die Planung in der physischen Realität umgesetzt wird. Eine neue Fabrik kann so erstmal einige Monate im Metaverse betrieben werden– mit allen Mitarbeiter*innen in einer hochauflösenden VR-Umgebung, in der dann vielleicht die ersten Verbesserungsprozesse in der virtuellen Fabrik stattfinden, bevor diese „live“ geht — dann aber gleich mit deutlich höherer Anlaufkapazität.
Gleichzeitig werden die Mitarbeiter*innen in einer virtuellen Umgebung realistische und praktische Erfahrungen sammeln und so „on the job“ ausgebildet. Das Metaverse kann so auch als Plattform für Training dienen. Es ermöglicht realistische Simulationen von Arbeitsumgebungen und -prozessen, was zu einer verbesserten Sicherheit und Effizienz am Arbeitsplatz führen kann.
Im Bereich Supply Chain Management sehe ich vor allem Chancen, mit dem Metaverse die gesamte Lieferkette zu visualisieren und in Echtzeit zu überwachen (auch wenn das ein Use Case ist, an dem man diskutieren kann, wo das Metaverse anfängt bzw. aufhört). Dies ermöglicht eine genauere Vorhersage und Steuerung von Lieferkettenereignissen, was zu geringeren Kosten und weniger Verschwendung führen kann. Am spannendsten ist hier auch die Möglichkeit, das Metaverse als Plattform für die Zusammenarbeit zwischen Teams, Abteilungen und sogar verschiedenen Unternehmen zu nutzen. Dies kann zu besseren und schnelleren Entscheidungen führen und auch die Resilienz von Supply Chains bei Störungen oder Krisen führen.
3. Welche technischen Anforderungen und Infrastruktur sind erforderlich, um das Industrial Metaverse erfolgreich zu implementieren und welche Hindernisse müssen möglicherweise überwunden werden, um eine breite Akzeptanz und Anwendung in der deutschen Industrie in naher Zukunft zu erreichen?
Die genannten Anwendungsfälle könnten die Art und Weise, wie Unternehmen in diesen Branchen arbeiten, grundlegend verändern, indem sie Prozesse effizienter und genauer machen, die Kundenzufriedenheit verbessern und neue Möglichkeiten für Fernarbeit und -interaktion schaffen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Implementierung des Metaverse auch Herausforderungen mit sich bringt, wie z.B. Fragen der Datensicherheit und Privatsphäre, die Notwendigkeit für eine zuverlässige mobilen Internetverbindung (in Deutschland), Fragen der Arbeitssicherheit und Ergonomie von hybrider Arbeit im Metaverse, und viele Fragen einer menschengerechten Technikgestaltung, die dann auch die Akzeptanz für die neuen neue Technologien.
Wichtig ist dabei immer zu wissen, dass wir uns technisch gerade in Bezug auf UI/UX immer noch auf dem Niveau der ersten Nokia-Handys mit mobilem Internet befindet — das iPhone-Äquivalent für die Nutzerinteraktion mit dem Metaverse fehlt noch. Die wenigstens der älteren Leser, die sich noch an die ersten mobilen Web-Applikationen erinnern, hätten sich damals (2002) vorstellen können, welche Anwendungen und Geschäftsmodelle durch das mobile Internet möglich wurden — Amazon, Uber, Apple, DHL, Google — alles Unternehmen, die es ohne mobiles Internet in der heutigen Form nicht geben würde. Deshalb ist es falsch, von den heutigen klobigen VR-Brillen auf zukünftige Interaktionsschnittstellen zu schließen. Hier wird noch viel passieren, und erst dann wird es zu einer breiten Adaption des Industrial Metaverse kommen.