3 Fragen an Peter Liggesmeyer und Harald Schöning zur Aktualisierung der „Themenfelder Industrie 4.0“
München, 06. September 2022
1. Was sind die drängendsten Forschungs- und Entwicklungsbedarfe, die in den nächsten Jahren anstehen und besonders gefördert werden sollten?
P. Liggesmeyer:
In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, die geschaffenen technischen Grundlagen bestmöglich in die Umsetzung zu bringen. Dies betrifft insbesondere kleine und mittlere Unternehmen. Ein Schwerpunkt in der Forschung wird die Durchdringung der komplizierten, vernetzten Produktionsprozesse sein. Das betrifft das Verständnis neuer Geschäftsmodelle, aber auch die Fähigkeit Nachhaltigkeits- und Resilienz-Aspekte zu bewerten.
H. Schöning:
In den letzten 10 Jahren wurde wesentliche Pionierarbeit geleistet, so dass mit der Unterstützung von BMBF & BMWK das technologische und konzeptionelle Fundament für Industrie 4.0 gelegt sind. Nun muss es vor allem darum gehen, die entwickelten Technologien & Konzepte in die breite Anwendung zu bringen. Allerdings bedeutet das nicht, dass es keinen Forschungs- und Entwicklungsbedarf mehr gebe, der neben dem Fokus auf Transfer / Adaption der (grundlegenden) Forschungsergebnisse erforderlich ist. Hier sollte ein nationales Monitoring Industrie 4.0 etabliert werden, damit transparent wird, wo Deutschland in Bezug auf die Umsetzung von Industrie 4.0 in der Wirtschaft steht – auch im internationalen Vergleich.
Um den weiteren FuE-Bedarf fassbar zu machen, hat der Forschungsbeirat die interdisziplinären „Themenfelder Industrie 4.0“ erarbeitet. Unter den vier Überschriften „Wirtschaftlicher Wandel der Wertschöpfung“, „Perspektiven technologischer Entwicklung“, „Engineering von Industrie 4.0-Lösungen“ und „Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft“ finden sich die jeweiligen Forschungs- und Entwicklungsbedarfe. Diese zahlen alle auf die gesamtgesellschaftlichen Ziele Nachhaltigkeit, Souveränität und Sicherung des Standorts Deutschland ein und tragen zur Lösung aktueller Herausforderungen bei, z.B. Reduktion von Treibhausgasemissionen, Verringerung der Abhängigkeiten von außereuropäischen Rohstofflieferanten und Resilienz der Wirtschaft.
2. Welche akuten Handlungsempfehlungen lassen sich kurz und knapp für die Politik zur Umsetzung digitaler Strategien in der Praxis ableiten?
P. Liggesmeyer:
Zunächst einmal ist es wichtig, dass auch in der Politik verstanden wird, dass Industrie 4.0 etwas ist, das man nicht innerhalb weniger Jahre umsetzen kann. Industrie 4.0 erfordert eine andauernde, systematische Unterstützung durch die Politik. Dabei sollte die Beseitigung von Innovationshemmnissen im Mittelpunkt stehen.
H. Schöning:
Aus aktuellem Anlass nenne ich den Themenbereich Gesetzgebung und Regulierung (auf nationaler und europäischer Ebene) zuerst. Regulierungen, die in der Vergangenheit einmal sinnvoll waren, und auch ihre Auslegungen müssen auf den Prüfstand gestellt werden, denn heute verhindern Sie z.B. die flexible Nutzung erneuerbarer Energien, die Nutzung und die rechtsichere Nutzung nicht personenbezogener Maschinendaten. Aktuell mit hoher Frequenz erlassene neue Eine Regulierungen auf EU-Ebene erzeugen Kollateralschäden, weil sie nicht präzise genug auf die intendierten Ziele eingeschränkt werden. Hier muss eine wirklich umfassende Folgenabschätzung unter Einbeziehung aller Stakeholder stattfinden. Eine „regulatorische Reflexion“ wäre angebracht. Für die gelegentlich geäußerte Auffassung, dass Regulierung Innovation hervorbrächte, gibt es m.W. keine empirische Evidenz.
Zweiter Punkt ist für mich, dass die Politik als leuchtendes Beispiel vorangeht und zum Vorreiter der Digitalisierung wird. Momentan können wir doch jedoch eher hoffen, beim Thema E-Government im internationalen Vergleich nicht noch weiter zurückzufallen.
Schließlich muss die Erprobung und Erforschung der Digitalisierung in innovativen Bereichen weiterhin von der Politik gefördert werden. Dabei ist immer zu bedenken, dass Industrie 4.0 einen tiefgreifenden Strukturwandel bedeutet, der sich – wie die 3 anderen wirtschaftliche Revolutionen zuvor – über viele Jahre hinziehen wird, weshalb auch die Politik hier langen Atem braucht.
3. Wie können die Nachhaltigkeitsziele mithilfe von Industrie 4.0-Technologien erreicht werden?
P. Liggesmeyer:
Viele Eigenschaften von Industrie 4.0 zahlen auf Nachhaltigkeit ein. So gestattet beispielsweise das genaue Verständnis der Produktionsabläufe deren Optimierung im Hinblick auf Energie- und Rohstoffverbrauch. Außerdem wird die systematische Realisierung einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft unterstützt.
H. Schöning:
Industrie 4.0 kann zu verschiedenen Nachhaltigkeitszielen beitragen, z.B. zur Reduktion von Energieverbrauch durch durchgängige Optimierung der gesamten Wertschöpfung über die Lieferketten hinweg. Dabei ist eine ganzheitliche Betrachtung erforderlich – von der Produktion von Zwischenprodukten über die Logistik bis hin zur Anpassung der Produktion an das aktuelle Angebot an Elektrizität aus erneuerbaren Energien – das kann nur mittels Industrie 4.0 realisiert werden. Ein anderes Beispiel ist die Einsparung von Rohstoffen durch Erhöhung von Erfassungsgrad in der Kreislaufwirtschaft und der Qualität der wiedergewonnenen Rohstoffe. Hier sind neben einem entsprechendem Produktentwurf vor allem Informationen zu Inhaltsstoffen und Demontage von Produkten über ihren gesamten Lebenszyklus erforderlich – ein Thema, dass von Industrie 4.0 z.B. durch den digitalen Produktpass adressiert wird. Auch digitale Geschäftsmodelle, wie sie durch Industrie 4.0 ermöglicht werden, können einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.
Wenn sich die Wertschöpfung von der Herstellung eines Produktes hin zu Services für dieses Produkt verlagert, werden bei gleicher Wertschöpfung weniger Ressourcen benötigt. So ergibt sich ein Anreiz für die Industrie, langlebigere bzw. flexiblere Produkte herzustellen. Auch die Einsparung von Material und Vermeidung von Ausschuss lässt sich durch eine Echtzeitqualitätskontrolle oder sogar Qualitäts-Prognose erreichen. Zu Industrie 4.0 gehört auch von Anfang an die Betrachtung des Menschen. Hierunter fällt z.B. die Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion, die auf den Menschen ausgerichtet ist. Kollaborative Roboter sind hier nur ein Beispiel. Und schließlich geht es auch um die wirtschaftliche Nachhaltigkeit: wenn wir Produktion in Deutschland halten und Arbeitsplätze nachhaltig sichern wollen, dann geht kein Weg an Industrie 4.0 vorbei.
Die Publikation des Forschungsbeirats der Plattform Industrie 4.0 „Themenfelder Industrie 4.0
(2. überarbeitete Fassung)“ finden Sie hier.