„Wir waren gemeinsam als Team erfolgreich“ – Interview mit Prof. Reiner Anderl zum Ausstand als Sprecher des Forschungsbeirats
München, 19. April 2021
Herr Anderl, Sie haben Ihre Funktion als wissenschaftlicher Sprecher des Forschungsbeirats im März 2021 mit Ihrer Pensionierung niedergelegt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die fast acht Jahre als wissenschaftlicher Sprecher des Gremiums zurück?
Mit sehr viel Wehmut. Die Arbeit im Kontext des wissenschaftlichen Beirates und später des Forschungsbeirats hat mir viel Spaß gemacht, weil es immer sehr spannend war. Es gab natürlich auch einige Herausforderungen in dieser Zeit, aber ich denke, dass wir diese sehr zielorientiert bewältigt haben und gemeinsam als Team erfolgreich waren.
Wie kam es zur Gründung des wissenschaftlichen Beirates im Jahr 2013?
Die Initiative Industrie 4.0 ist im Jahre 2010/2011 im Kontext der Hightech-Strategie der Bundesregierung entstanden. Die Väter von Industrie 4.0 sind bekanntlich: Professor Wahlster, Professor Kagermann und Professor Lukas, die sich noch heute sehr intensiv sich in der Industrie 4.0-Entwicklung engagieren. 2013 wurde eine Studie an Frau Bundeskanzlerin Merkel auf der Hannover Messe überreicht, um die Industrie 4.0-Grundlagen als eine der ersten umfassenden Veröffentlichungen zu publizieren. Daraufhin meldeten sich Akteure aus der Industrie und signalisierten Interesse daran, gemeinsam diese Entwicklung voranzutreiben. So kam es zu der Gründung der sogenannten „Verbändeplattform“ der Industrie 4.0, die von 2013 bis 2015 existiert hat. In der damaligen Zeit hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erkannt, dass die industrielle Entwicklung auch wissenschaftlich unterstützt werden sollte und so kam es zur Gründung des wissenschaftlichen Beirats.
Wie hat sich der wissenschaftliche Beirat in den Folgejahren weiterentwickelt und was waren dabei die größten Herausforderungen?
Es hat sich sehr schnell gezeigt, dass der wissenschaftliche Beirat nicht nur ein informelles Gremium sein konnte: Um agil auf neue Entwicklungen zu reagieren und Forschungsfragen vertieft analysieren zu können, mussten entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ohne diese Bedingungen wäre es dem Forschungsbeirat nicht möglich gewesen, seine Empfehlungen an Wissenschaft, Wirtschaft und Politik etwa in Form der Expertisen und Impulsberichte aussprechen zu können.
Im April 2018 öffnete sich der Beirat für Mitglieder aus der Wirtschaft. Die Sprecher werden seitdem paritätisch besetzt. Wie erlebten Sie diese Zusammenarbeit und welche Impulse sind daraus entstanden?
Da gibt es eine ganze Reihe von sehr schönen Beispielen: Etwa das Thema Wertschöpfungsnetzwerke, IT-Sicherheit und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, das gerade durch die Wirtschaft eine besonders hohe Bedeutung im Forschungsbeirat gewonnen hat. Ein weiteres Beispiel ist der digitale Zwilling, also ein virtuelles Modell etwa eines Produkts, das die reale und digitale Welt miteinander verknüpft. In einem der ersten Filme zu Industrie 4.0 gab es das Schlagwort „Bauteile werden zu Informationsträgern“, daraus ist der digitale Zwilling entstanden. Wenn Sie sehen, welche Entwicklung dieser aus der Wissenschaft heraus in die industrielle Nutzung und Anwendung genommen hat, dann ist das sehr bemerkenswert.
Das internationale Engagement des Forschungsbeirats war Ihnen immer ein großes Anliegen. Welche Herausforderungen stellen sich der Industrie 4.0 im internationalen Umfeld? Wie kann die deutsche Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich sichergestellt werden?
Die Kooperation mit dem Industrial Internet Consortium (IIC) oder mit den chinesischen Industrie 4.0-Akteuren halte ich für sehr relevant. Zusätzlich ist die Zusammenarbeit mit Japan essenziell, denn hier geht es darum, wichtige Weichen für die Zukunft zu stellen: Wir sprechen hier über das Konzept „Society 5.0“, einem neuen gesellschaftlichen Zukunftsmodell, das auf modernen Technologien basiert. Beide Nationen sind mit einem sehr dynamischen demographischen Wandel konfrontiert und stellen sich gemeinsam die Frage, wie darauf mit technologischen Lösungen reagiert werden kann.
Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit hat aus meiner Sicht einen ganz hohen Stellenwert, denn nur wenn es uns gelingt, die neuen Technologien zu gestalten, werden wir auch auf dem Weltmarkt eine entsprechende Rolle einnehmen können. Gerade in den Bereichen der Produktionstechnik und der Automatisierungstechnik ist Deutschland Weltmarktführer und diese gilt es zukünftig auszubauen. Dieser Ausbau kann dadurch gelingen, dass die informations- und kommunikationstechnischen Leistungsprofile stärker mit den Leistungsprofilen der Produktions- und Automatisierungstechnik verzahnt werden.
Worin sehen Sie die größten Erfolge des Forschungsbeirats und was waren für Sie persönlich die schönsten Momente?
Die größten Erfolge sehe ich darin, dass wir das Memorandum des Forschungsbeirats veröffentlicht haben, das insbesondere auch vom Wissenschaftsrat Deutschland aufgenommen und in seine neue Stellungnahme integriert wurde. Darüber hinaus ist es uns gelungen, mit der Definition der Themenfelder zukünftige Forschungsperspektiven sehr detailliert und pointiert zu formulieren.
Was möchten sie dem neuen Sprecherkreis mit auf den Weg geben oder welche Tipps könnten Sie Ihren Amtsnachfolgern geben?
Der wichtigste Tipp besteht darin, das Netzwerk des Forschungsbeirats zwischen Wirtschaft und Wissenschaft weiter auszubauen. Industrie 4.0 zielt nicht nur auf die Produktion ab, sondern ist so konzipiert worden, dass es für viele Wirtschaftsbereiche ein gangbarer Weg sein kann, zum Beispiel bei Smart City, Smart Home, Smart Logistics oder Smart Grid. Ich denke, der neue Sprecherkreis wird auch damit Erfolge haben, den Anwendungskreis von Industrie 4.0 auf weitere wichtige Bereiche zu erweitern. Die Entwicklungen rund um Industrie 4.0 werden auch in Zukunft einen hohen politischen Stellenwert haben – gerade vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungen, die wir heute alle sehen. Dafür wünsche ich dem neuen Sprecherkreis viel Erfolg.
Interview: Kristina Fornell und Sebastian Witte