Verborgene Schätze im Siedlungsabfall: acatech HORIZONTE zeigt Potenzial des Urban Mining
München, 4. Mai 2021
Städte und Siedlungen sind die Rohstoffquellen der Zukunft: Alte Brücken und Häuser, defekte Maschinen und Elektrogeräte sind keine Abfälle, sondern wertvolle Ressourcen. Urban Mining ist das Konzept, sie zu systematisch zu sammeln, aufzubereiten und wiederzuverwenden – die technologischen Möglichkeiten sind da. Die neue Ausgabe der acatech HORIZONTE fasst verständlich und fundiert zusammen, wie Urban Mining funktioniert, wo das Konzept umgesetzt werden kann, welche Hürden es noch gibt und wie Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sie überwinden können.
Deutschland und Europa sind rohstoffarme Regionen. Zwar verfügt Deutschland über einen einheimischen Bergbau für Baustoffe, Mineralien und Braunkohle, bei Metallen und Erzen ist es aber auf Importe angewiesen. Diese sind für die Schlüsseltechnologien der Wirtschaft von zentraler Bedeutung, werden aber teilweise unter unzumutbaren Umwelt- und Arbeitsbedingungen abgebaut. Weltweit sind die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen für etwa 30 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Urban Mining kann dazu beitragen, sowohl die Rohstoffabhängigkeit Europas von Drittländern als auch den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Aus technologischer Sicht wäre das umfassende Recycling der vielen Tonnen sogenannter Sekundärrohstoffe wie Metall, Beton und Kunststoff vor unserer Haustüre im Sinne einer Circular Economy schon heute möglich.
Elektroschrott gehört nicht auf die Straße
Die acatech HORIZONTE „Urban Mining“ stellt vielversprechende technische Ansätze zur Gewinnung sogenannter Sekundärrohstoffe durch Wiederaufbereitung der Primärrohstoffe. Eine Rohstoffquelle mit großem Zukunftspotential ist der Elektroschrott, von dem in Deutschland jedes Jahr 1,6 Millionen Tonnen anfallen. Heute werden nur 40 Prozent des Elektroschrotts wiederverwertet, der Rest wird oft verbrannt und als Füllmaterial im Straßenbau verwendet. Computer, Smartphones und Batterien enthalten aber große Mengen wertvoller Metalle wie Gold, Platin und Kupfer. Wissenschaftlerinnen arbeiten deshalb mit Hochdruck an neuen Verfahren, mit denen diese Metalle aus den Geräten herausgelöst und wiederverwertet werden können.
Auch in der Baubranche gibt es interessante neue Ansätze. Einer der wichtigsten Rohstoffe zur Herstellung von Baustoffen wie Beton und Glas ist Sand. Weltweit werden davon pro Jahr etwa 40 Milliarden Tonnen verbaut – und er wird zunehmend knapp. Denn die Qualität des Sands ist entscheidend für die Einsatzfähigkeit. Wüstensand beispielsweise fehlt die Festigkeit zur Betonherstellung. Um einem Sandmangel entgegenzuwirken, forschen zum Beispiel Deutschland und die Schweiz an Verfahren zum Betonrecycling. Sie können in Zukunft potenziell nicht nur für mehr Nachhaltigkeit sorgen, sondern der Industrie auch neue Geschäftsfelder eröffnen.
Von der Forschung in die flächendeckende Anwendung
Technisch ist die Wiederverwertung von Sekundärrohstoffen schon heute möglich. Jetzt gilt es, den Schritt vom Labor in die Praxis zu wagen. Damit Urban Mining flächendeckend gelingt, müssen wirtschaftlich rentable Geschäftsmodelle entstehen. Denn bislang sind Primärrohstoffe meist billiger als recycelte Materialien. Pilotprojekte in der Schweiz und den Niederlanden zeigen aber, dass die Umsetzung erfolgreich sein kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Folgende Aspekte sind aus Sicht der der acatech HORIZONTE-Expertengruppe besonders wichtig:
- Zirkuläres Wirtschaften beginnt beim Produktdesign: Schon bei der Entwicklung muss die Wiederverwendung mitgedacht werden. Nur so können die verbauten Rohstoffe später schnell und einfach identifiziert und sauber voneinander getrennt werden.
Schadstoffvermeidung hat Priorität: Bei der Herstellung muss der Einsatz von toxischen Stoffen auf ein Minimum reduziert werden. - Urban Mining bedeutet auch Data-Mining: Daten schaffen die Grundlage, die einzelnen Materialkomponenten aufzufinden, wiederaufzubereiten und zu recyceln. Die Einführung eines Materialpasses würde die Wiederaufbereitung einfacher und effizienter machen.
- Die Politik entscheidet: Durch die Förderung von Recycling-Materialien oder eine Steuer auf Primärrohstoffe kann die Politik nicht nur ökonomische Anreize setzen.
- Urban Mining erfordert gemeinsames Denken und Handeln: Architektur und Design, Entwicklung und Maschinenbau, Industrie, Kommunen, Politikerinnen und Politiker und nicht zuletzt die Konsumentinnen und Konsumenten können das Konzept gemeinsam vortreiben.
Urban Mining ermöglicht Klimaneutralität und wirtschaftlichen Mehrwert
Die Europäische Union möchte bis 2050 vollständig klimaneutral sein. Urban Mining kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten und ist eine Voraussetzung für den Übergang vom heutigen Paradigma des „Make, Take and Waste“ in eine umfassende Kreislaufwirtschaft, eine Circular Economy.
Die Arbeitsgruppe der acatech HORIZONTE ist überzeugt, dass Urban Mining großes disruptives Potential hat. Dafür muss der Schritt in die industrielle Anwendung gelingen. Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft müssen sich dafür auf ein gemeinsames Denken und Handeln einigen. Politische und rechtliche Rahmenbedingungen müssen den wirtschaftlichen Einsatz von Urban Mining möglich machen.
Auch Investoren – ob private oder institutionelle – haben eine besondere Verantwortung: Sie könnten Startups aus der Recyclingbranche gezielt mit Kapital ausstatten, damit sie nachhaltige Geschäftsmodellen schnell zur Markreife bringen. Unter diesen Voraussetzungen, so das Fazit der Arbeitsgruppe, kann Urban Mining ein Meilenstein auf dem Weg zu einer nachhaltigen Zukunft sein, in der Mensch, Technik und Natur miteinander in Einklang stehen. Urban Mining sei ein wichtiger Baustein für Umwelt- und Klimaschutz und zugleich eine wirtschaftliche Chance: Deutsche und europäische Unternehmen können an globaler Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, indem sie führende Anbieter und Anwender des Urban Mining werden.
Über acatech HORIZONTE
Die Themenreihe „acatech HORIZONTE“ untersucht Technikfelder, die unseren Alltag grundlegend verändern, aber ihre Tragweite noch unklar ist. acatech möchte vorhandenes Wissen anschaulich und verständlich aufbereiten und eine Plattform bieten, solche Technologien differenziert zu bewerten und Handlungsfelder abzuleiten. Die Publikationen der „acatech HORIZONTE“ bilden einen breit angelegten Diskussionsprozess ab. Ein Begleitkreis mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Technikkommunikation und der Gründerszene berät acatech bei der Themenwahl.
Weiterführende Informationen:
acatech HORIZONTE Urban Mining
acatech HORIZONTE logbuch: Expertenmeinungen zu den HORIZONTE Themen