Die Pandemie verändert unseren Umgang mit Technik
Tutzing, 18. September 2020
Hat die Corona-Krise die Digitalisierung beschleunigt? Wie sind die Corona-Maßnahmen zu bewerten? Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Gesellschaft? Und wie sieht gute Krisenkommunikation aus? Darüber tauschten sich am 9. und 10. September Expertinnen und Experten aus Technik, Politik und Soziologie in Tutzing aus. Ausgerichtet wurde die Tagung „Corona als Beschleuniger? – Wie ein Virus uns und unseren Umgang mit Technik ändert“ von der Akademie für Politische Bildung Tutzing und acatech.
Beschleunigung der Digitalisierung
„Corona hat Deutschland einen Digitalisierungsschub verpasst“ sagte Dietmar Harhoff, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, bei seinem Vortrag in Tutzing. Vor allem in der Telemedizin sei die Dringlichkeit der Digitalisierung sichtbar geworden – so zeige sich beispielsweise, dass die Möglichkeit, Rezepte digital zu erhalten und damit Kontakte zu vermeiden, dabei helfen kann, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Auch in anderen Bereichen beobachte er eine unfreiwillige Zunahme an Nutzung und Akzeptanz digitaler Technologien. Er sei sich sicher, dass die Digitalisierung nach der Pandemie auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen einen weiteren Aufschwung erleben werde. So spare ein Unternehmen enorm viel Geld, wenn beispielsweise Dienstreisen durch digitale Konferenzen ersetzt würden.
Michael Decker, Leiter des Bereichs Informatik, Wirtschaft und Gesellschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Mitglied der Plattform Lernende Systeme, ergänzte, dass KI-Systeme auch außerhalb der Unternehmen im Umgang mit dem Virus helfen könnten. Die Corona-Krise verleihe jenen autonomen Technologien Aufwind, die bei der Bekämpfung der Pandemie hilfreich sind.
Dies bestätigte auch Michael Zwick, Technik- und Umweltsoziologe an der Universität Stuttgart. Er sagte, dass durch Corona eine hochgradige und alternativlose Digitalisierung im privaten, beruflichen und öffentlichen Leben zu beobachten sei. Während die Deutschen vor der Corona-Krise der Digitalisierung skeptisch gegenübergestanden hätten, sähen viele die Digitalisierung jetzt als Chance. Nicht zuletzt auch im Bildungswesen erzwinge die Pandemie eine Ad-hoc-Digitalisierung hin zu vollständigem Online-Unterricht.
Die Corona-Pandemie treibt auch die Digitalisierung an der Akademie für Politische Bildung Tutzing voran. So wurden einige Referentinnen und Referenten per Zoom in den Saal geschaltet.
Darunter Claudia Eckert, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Angewandte und Integrierte Sicherheit und Mitglied der Plattform Lernende Systeme. Sie sieht in der rasanten Digitalisierung, die Harhoff und Zwick vor ihr beschrieben hatten, eine Gefährdung der digitalen Souveränität. Vor allem beim Home-Office müsste sicheres, mobiles Arbeiten ermöglicht und vertrauenswürdige Datennutzung garantiert werden. Diese Herausforderungen seien nicht neu, betonte sie, jedoch habe Corona die Handlungsdringlichkeit verdeutlicht.
Kommunikation in der Krise
Die Corona-Krise führt eine Beschleunigung in der Digitalisierung herbei – doch wodurch zeichnet sich die Krise aus?
„Eine Krise ist erst real, wenn über sie berichtet wird“, zitierte Ortwin Renn, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Institute for Advanced Sustainability Studies, den Soziologen Niklas Luhmann. Gerade in der Corona-Krise sei Kommunikation zentral, um die Gefahr des Virus darzustellen. „Das Coronavirus ist nicht sichtbar. Man sieht die Konsequenzen, aber nicht den Aggressor“, sagte Ortwin Renn. Weil das Virus und die damit einhergehende Gefahr nicht unmittelbar erkennbar seien, kursierten Spekulationen und Verschwörungstheorien. Nur eine gute Krisenkommunikation könne das Vertrauen in die staatlichen Institutionen aufrechterhalten.
Ortwin Renn empfahl deshalb, bei Aussagen über das Coronavirus auf Plausibilität und Verhältnismäßigkeit zu achten. Abstrakte Zahlen über die Infektionsverbreitung seien weniger hilfreich als anschauliche Beispiele. Die Verbreitung des Virus lasse sich gut am Beispiel eines Kaufhauses erklären, so der Krisenforscher: Im Schnitt werde es pro Tag von 10.000 gesunden Menschen und fünf Infizierte betreten – wer diese fünf Infizierten jedoch sind, das wisse niemand. „Die Pandemie ist nicht komplex“, sagte Ortwin Renn. Im Vergleich zum Klimawandel erscheine sie recht simpel, ebenso die Gegenmaßnahmen. Jedoch zwinge uns die Pandemie zu komplexen Abwägungsfragen und es entstünden Sekundäreffekte aus den Folgen und Maßnahmen. Von diesen Effekten seien wiederum bestimmte Bereiche besonders betroffen – wie zum Beispiel die Gastronomie, die aufgrund der Pandemie und des Lockdowns schließen musste und nun über Einbußen klagt. Die Kommunikation in der Coronakrise sei von einem Kampf um die Deutungshoheit geprägt, so Ortwin Renn. Besonders vehement werde er von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausgetragen. „Christian Drosten ist mittlerweile fast bekannter als Angela Merkel“, scherzte der Soziologe.
„Vergesundheitlichung“ als Totschlagargument
Neben einer guten Krisenkommunikation kommt es bei der Bekämpfung der Pandemie auch auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen an.
„Vergesundheitlichung kann ein Totschlagargument sein“, warnt Jessica Heesen vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften und Mitglied der Plattform Lernende Systeme. Der Schutz vor Krankheiten dürfe nicht zu einem alles übersteigenden Gebot werden. Die Dominanz dieser Thematik sei ein Problem für die demokratische Wertordnung. „In einer Demokratie gibt es keine Optimierung nach einem bestimmten Schema, sondern das Schema selbst wird ausgehandelt“, sagte Jessica Heesen. Es könne nicht einfach eine Ausgangsperre verhängt werden. Verordnungen müssten immer wieder neu verhandelt werden. Den Kontextbezug betrachtet Heesen ebenso als notwendiges Element der Krisenbewältigung: Es sei richtig, dass sich die Corona-Maßnahmen je nach Bundesland unterschieden – immer in Abhängigkeit von der Anzahl der Infizierten und der Kapazitäten der Krankenhäuser.
So wirkt Corona auf die Gesellschaft
Theaterwissenschaftlerin Ruth Sander (Politik im Raum) wollte mit einer Aufstellung Emotionen beim Thema Corona sichtbar machen. Dieses Format entstammt dem systemischen Coaching und machte den Umgang von Bürgerinnen und Bürgern, Medien und Politik mit Corona sichtbar und erlebbar – vom Anfang der Pandemie bis hinein in die Zukunft. Die Verteilung der Rollen und ihre Beziehungen zueinander waren Ausgangspunkte für Gespräche zu unserem Umgang mit der Pandemie.
Auf einem Abschlusspanel beschrieb acatech Präsident Dieter Spath Auswirkungen auf die Arbeitswelt von morgen. Die Corona-Krise wird die Art des Arbeitens nachhaltig verändern. Viele haben nicht nur Vorbehalte gegenüber dem Home Office, sondern auch gegenüber Videokonferenzen und anderen Möglichkeiten der Kommunikation abgebaut. Viele werden sich überlegen, welche Reisen wirklich nötig sind, ob wir also nicht auch nach der Krise die Dienstreisen reduzieren auf die Termine, bei denen das Onlinemeeting keine Alternative ist. Das spart Zeit, Geld und ist ökologisch sinnvoll.
Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing, hält die Corona-Pandemie für eine vertrauensbildende Erfahrung für die Gesellschaft.Die meisten Menschen hätten das Gefühl, dass die Politik zu ihrem Schutz handelt. Dennoch ließen sich die Auswirkungen der Pandemie auf die Bevölkerung nicht verallgemeinern. Jede gesellschaftliche Gruppe nehme diese anders wahr, und das müsse auch in der Kommunikation berücksichtigt werden.
Sehen Sie hier einen Zusammenschnitt der Tagung in Tutzing:
Expertinnen und Experten im Interview mit acatech:
Prof. Dr. Michael Decker, Leiter des Bereichs Informatik, Wirtschaft und Gesellschaft, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Mitglied der Plattform Lernende Systeme
Prof. Dietmar Harhoff, Ph.D., Direktor Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, München
PD Dr. Jessica Heesen, Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Eberhard Karls Universität Tübingen und Mitglied der Plattform Lernende Systeme
Prof. Dr. Ortwin Renn, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor, Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), Potsdam
Karl-Peter Repplinger, Brüssel