Hallo, digitaler Zwilling: Senat diskutiert Perspektiven des digitalen Wandels

München, 21. Juli 2022
acatech Präsident Reinhard Ploss und Roland Busch, CEO der gastgebenden Siemens AG und acatech Senator, begrüßten am 15. Juli die Senatorinnen und Senatoren der Akademie in München. Im Zentrum der Senatsveranstaltung stand die intelligente Vernetzung in Industrie, Infrastrukturen, Mobilität, Energie und Medizin. Florian Herrmann, Bayerischer Staatsminister für Bundesangelegenheiten und Medien und Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, sprach das Grußwort der Abendveranstaltung: acatech vereine die brillantesten Köpfe aus Forschung, Technik und Wirtschaft. Exzellenz und Innovation seien wegweisend für die Zukunft Bayerns.
Reinhard Ploss und Roland Busch setzten in ihrer Eröffnung den Rahmen für die Beiträge und Praxisbeispiele des Nachmittags. Die Welt sei im Wandel: Gegenwärtige Krisen wie die Corona-Pandemie träfen auf langfristige globale Herausforderungen wie den Klimaschutz. Für ihre Bewältigung sei digitale Vernetzung unabdingbar. Industrie, Mobilität, Medizin und viele andere Bereiche müssten allerdings effizienter, nutzerfreundlicher und auch resilienter werden. Darüber hinaus sei es wichtig, die Chancen zu nutzen, die sich aus einer plattformbasierten Wirtschaft ergeben. Europa habe das Rennen im B-to-C-Bereich gegen China und die USA verloren; aber im industriellen Bereich stünden weiter alle Chancen offen. Hier gehe es etwa um den Aufbau des industriellen Metaverse, das eine neue Stufe der Zusammenarbeit ermögliche und Innovationen beschleunige – auf die Geschwindigkeit, mit der heute Software entwickelt werde. Grundlage seien digitale Zwillinge, mit deren Hilfe die Physik der realen Welt in die virtuelle gespiegelt werden könne – photorealistisch und in Echtzeit.
Digitale Transformation ja – aber nachhaltig!
Ein Kernanliegen von Reinhard Ploss ist, technologischen Wandel entlang globaler Herausforderungen und gesellschaftlicher Trends auszurichten. Wie lässt sich die digitale Transformation nachhaltig gestalten? Darüber diskutierte der acatech Präsident mit Christina Raab (Vorsitzende, Accenture DACH), Peter Körte (Chief Technology & Strategy Officer, Siemens AG) und Stephan Kaulbach (Head of Data Intelligence Center, Deutsche Bahn AG). Ein Schwerpunkt der Diskussion war die Frage, wie sich die digitale Transformation in Unternehmen nicht nur für, sondern mit den Menschen gestalten lässt. Es sei wichtig, Initiativen zu unterstützen, Experimentierräume für Neues zu eröffnen und gute Ideen wachsen zu lassen. Im globalen Vergleich sei in Deutschland der Anspruch auf Vollständigkeit und Perfektion enorm und gehe teils zu Lasten der Geschwindigkeit. Dass es anders geht, führte Stephan Kaulbach am Beispiel eines Bahnmitarbeiters an. Dieser hatte für eine spezifische Aufgabe in seinem Arbeitsalltag eine app-basierte Lösung entwickelt. Durch kreative Entwicklungen, erfolgreiche Anwendungen und Use Cases werden digitale Innovationen attraktiv, so ein Fazit der Diskussion.

Den Digitalen Zwilling erleben
Dirk Hartmann (Technical Lead, Company Core Technology Simulation and Digital Twin, Siemens AG) verdeutlichte den Senatorinnen und Senatoren die Bedeutung von digitalen Zwillingen. Digitale Zwillinge spiegeln exakt die reale Welt und ermöglichen Analysen und Prognosen in völlig neuen Details. Der Mathematiker und Siemens „Erfinder des Jahres 2021“ ist einer der Pioniere der Simulationstechnologie und arbeitet an Anwendungen für die industrielle Produktion. Dirk Hartmann leitete zum Ende seines Vortrags über in eine Ausstellung, in der digitale Zwillinge für die Fertigungs- und Prozessindustrie zu sehen waren.
Angespannte globale Lieferketten
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die darauf reagierenden Sanktionen der westlichen Welt belasten Lieferketten ebenso wie die Nahrungs-, Ressourcen- und Energieversorgung. Gleichzeitig reißen die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch immer Lücken in internationale Lieferketten. Mehr Resilienz forderte acatech Präsident Jan Wörner deshalb für die Energiesysteme und Wertschöpfungsnetzwerke. Mit dem Impuls „Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit“ hatte sich acatech – unter Federführung von Jan Wörner – in diese Debatte eingebracht. Resilienz koste Geld, doch sie sei nötig. Sie entstehe nicht allein durch Redundanzen, sondern noch stärker, wenn anfällige Lieferketten zu Liefernetzen ausgebaut werden: Der Ausfall eines Kettenglieds unterbreche eine Lieferkette, dagegen ließen flexible Liefernetze Ausweichmöglichkeiten zu. Ebenso seien Innovationsnetzwerke resilienter als Innovationsketten. Insgesamt gelte es, einseitige Abhängigkeiten in kritischen Bereichen zu vermeiden und so strategische Souveränität zu erreichen. Dass nicht nur größere Redundanzen, sondern auch Vernetzung Resilienz erhöht, war ein Fazit der von Frank Riemensperger moderierten Diskussion mit Sabine Klauke (Chief Technical Officer, Airbus SE), Klaus Staubitzer (CPO und Head of Supply Chain, Siemens AG) und Jan Wörner. Die digitale Vernetzung und die Abbildung komplexer Prozesse erhöhe schon deshalb die Resilienz, weil sie Liefer- und Wertschöpfungsnetze bis ins Detail transparent machen – und deshalb die Reaktion auf Krisenereignisse vereinfachen.
Digitale Souveränität und Datenräume
Es sei viel schwieriger für digitale Unternehmen, die Industrialisierung nachzuvollziehen, als für Industrieunternehmen, sich zu digitalisieren, so Karl-Heinz Streibich, ehemaliger acatech Präsident und Ehrenvorsitzender des Senats. Industrieunternehmen seien deshalb vergleichsweise viel besser für die nächste Stufe der Digitalisierung positioniert, in der physische und digitale Wertschöpfung zusammenwachsen. Ihre gute Ausgangsposition können Industrieunternehmen dann nutzen, wenn sie bei der Nutzung von Daten vorwettbewerbliche Kooperationen aufbauen. Der ehemalige acatech Präsident stellte den Datenraum Mobilität – Mobility Data Space vor: Er sei eine Blaupause für die vorwettbewerbliche Zusammenarbeit bei der Datennutzung. Der Mobility Data Space bringe private wie öffentliche Mobilitätsanbieter und -dienstleister in Zusammenarbeit. acatech werde als unabhängiger, neutraler Partner beim Aufbau weiterer Datenräume nach diesem Beispiel unterstützen. Der Mobility Data Space präsentierte seine Arbeit an einem Stand während der Senatsveranstaltung.
Der Digitale Zwilling bringt der Medizin neue Möglichkeiten
Welchen Wert Daten in der Medizin haben können, erläuterte Stefan Vilsmeier (Vorstandsvorsitzender, Brainlab AG) am Beispiel neurodegenerativer Krankheiten. Der Vergleich neuronaler Daten von Parkinson-Patienten ermögliche beispielsweise eine immer punktgenauere tiefe Hirnstimulation. Die Stimulation kann die Behandlung von Parkinson unterstützen, indem Bewegungsbeschwerden wie Steifheit der Hände gelindert werden. Ähnlich können Krebstherapien auf Basis von Daten individualisierter und wirksamer werden.

Aber technische Möglichkeiten seien nicht alles: Ein gemeinsames Verständnis über den Nutzen und den Schutz von Daten seien in der Medizin besonders wichtig – bei Patientinnen und Patienten, beim medizinischen Personal, bei den Behörden und Regulierungsstellen. Es brauche einen Generationenvertrag für die Datenfreigabe, um gemeinsam die Medizin zu verbessern. Nutzerinnen und Nutzer sollten nach Stefan Vilsmeier individuell und transparent entscheiden können, welche Daten sie welchen Beteiligten an der medizinischen Versorgung freigeben möchten und welche nicht.
Die Energiesysteme von morgen brauchen digitale Intelligenz
Die Stromnetze müssen intelligent und vernetzt werden, damit sie nicht zum Flaschenhals der Energiewende werden. Diese Notwendigkeit veranschaulichte Sabine Erlinghagen (CEO Grid Software, Siemens AG) anhand von zwei Zahlen: Bis 2030 steige die Anzahl der Netzanschlüsse um das Siebenfache – unter anderem weil die Elektromobilität viele neue Verbraucher bringe. Aktuell ginge sogar Energie beim Transport verloren. Intelligente Software könnte die Transportverluste reduzieren. Allein in der EU ließen sich dadurch zehn Kraftwerke einsparen. Intelligentere Stromnetze seien damit grundlegend für eine stabile und effiziente Energieversorgung im Zeitalter der Erneuerbaren. Zusätzlich ermögliche auch der Digitale Zwilling eine bessere Fehleranalyse, Prognose, Steuerung und Reaktion auf widrige Ereignisse. Kurz: Die Energiesysteme werden resilienter.
Ein Fazit
Im abschließenden Gespräch mit beiden acatech Präsidenten betonte Roland Busch den hohen Veränderungsdruck. Es seien dabei nicht die Technologien selbst, die die Welt verändern oder verbessern. Es seien die Menschen, die Technologien entwickeln und nutzen, die uns nach vorne bringen. Der Siemens CEO zeigte sich optimistisch: Deutschland und seine internationalen Partner können die Aufgaben bewältigen – das Knowhow sei vorhanden, ebenso eine einzigartige Landschaft großer und kleinerer innovativer Unternehmen. Wichtig seien nun starke Innovations-Ökosysteme, Plattformen und Partnerschaften. acatech könne in ihrer Neutralität und ihrer Vernetzung in Wissenschaft und Wirtschaft diese Kooperation fördern.
Reinhard Ploss führte den Gedanken weiter: acatech werde sich über technikwissenschaftlichen Rat hinaus weiter an der Etablierung von Kooperationen und der Gründung entsprechender Strukturen beteiligen. Ebenso wichtig sei das gesellschaftliche Engagement: In der öffentlichen Diskussion solle es stärker um Veränderung gehen und die Frage nach dem gemeinsamen Weg in eine gute Zukunft. Jan Wörner ergänzte, dass dafür die gesamte Gesellschaft zu einem aktiven Träger des Wandels werden müsse. Nur als Gemeinschaftswerk haben Wandel und der Weg hin zu strategischer Souveränität eine feste gesellschaftliche Basis.
Armin Grunwald und Florian Herrmann sprechen auf dem Senatsempfang
Nach einem intensiven Nachmittag kamen die Senatorinnen und Senatoren mit Mitgliedern der Akademie und politischen Gästen zusammen. Florian Herrmann, Bayerischer Staatsminister für Bundesangelegenheiten und Medien und Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, sprach ein Grußwort. acatech vereine die brillantesten Köpfe aus Forschung, Technik und Wirtschaft. Seit über 20 Jahren sei die Akademie und das Sitzland Bayern enge Partner. Er zeigte sich überzeugt, dass Exzellenz und Innovation wegweisend für die Zukunft Bayerns sind.
Die Brücke zwischen Technik, Gesellschaft und Politik schlug Armin Grunwald in seiner Dinner Speech. Der Philosoph, Mitglied des Deutschen Ethikrats und ebenso Mitglied des acatech Präsidiums, stellte grundsätzliche Fragen zur Entwicklung der Digitalisierung.
Dafür wählte er die Form eines Märchens in vier Akten: Dort ging es um ein „fernes Land“, in dem über Jahrzehnte Frieden, zunehmender Wohlstand und Stabilität herrschten – und sich eine gewisse Gemütlichkeit breit gemacht hatte. Dann kamen Krisen: eine Pandemie, Krieg und Umweltkatastrophen. Das Land wachte langsam auf. Es hinterfragte die an der guten alten Zeit orientierte Gemütlichkeit und machte sich auf den Weg: Hin zu einer aktiven Gestaltung der Zukunft, mit offenem Blick und Denken in Alternativen, mit Realismus und Bescheidenheit, aber auch Selbstbewusstsein. Das Märchen führte in ein gutes Ende. Die Übertragung der Geschichte auf die reale Gegenwart, so Armin Grunwald, stehe noch aus – die Chance sei da.