KI vor Gericht – lösen sich die Prozessstaus endlich auf?
München, 19. Dezember 2023
Wie viele andere Bereiche unserer Gesellschaft, wird Künstliche Intelligenz (KI) auch die Justiz verändern. Für viele Gerichtsverfahren versprechen KI-Anwendungen neue Möglichkeiten für eine effektive Entlastung der Justiz. So könnten Verfahrensdauern bei ähnlich gelagerten Fällen, wie beispielsweise bei Fluggastentschädigungen oder KFZ-Bagatellschäden, durch KI-unterstützte Bearbeitung künftig verkürzt werden. Allerdings wirft der Einsatz von KI im sensiblen Rechtsbereich auch ethische Frage auf. Wo der Einsatz ratsam ist und wie er im Sinne unserer Rechtsordnung gelingen kann, diskutierten die Fachleute mit den Gästen am 12. Dezember bei acatech am Dienstag.
In seiner Begrüßung ging acatech Präsident Jan Wörner auf die Sorgen und Hoffnungen der Bevölkerung bezüglich KI ein. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die gerade erzielte Einigung der EU-Institutionen zum Artificial Intelligence Act (AI Act), der den vertrauenswürdigen Einsatz von KI in Europa konkret regelt. Jan Wörner betonte, dass dabei auch die dynamische Entwicklung der Technologie berücksichtigt werden sollte. Wichtig sei es, durch Transparenz Vertrauen in Institutionen zu schaffen.
Einsatzmöglichkeiten für KI-Technologien in der Rechtsfindung
Frauke Rostalski, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln und Mitglied der Plattform Lernende Systeme (PLS), führte zunächst in den rechtsethischen Rahmen ein. Als mögliche Anwendungsfelder von KI in der Justiz stellte sie drei Beispiele vor: einen elektronischen (Straf-)Gerichtssaal, eine Strafzumessungsdatenbank und einen „Iudex ex machina“, also eine Art Roboter-Richter. Dabei unterscheiden sich die Anwendungen deutlich in ihrer Autonomie: angefangen bei Software zur Entscheidungsunterstützung bis hin zu Systemen, die menschliche Rechtsanwender ersetzen, so Frauke Rostalski. KI-Werkzeuge zur Entscheidungsunterstützung können direkt in den bestehenden Prozessen genutzt werden: So überführe ein elektronischer (Straf-)Gerichtssaal Tonaufzeichnungen automatisiert in ein Protokoll der Hauptverhandlung. Eine Strafzumessungsdatenbank könne dazu beitragen, für vergleichbare Taten eine ähnlichere Strafzumessung zu finden, indem sie Einblick gewähre, welches Strafmaß in anderen Regionen ausgeurteilt werde. Denn bisher variiere dieses in Deutschland regional sehr stark, was laut Frauke Rostalski perspektivisch die Akzeptanz von Strafurteilen gefährden könne. Allerdings fehlten hierfür die Personen, die Urteile klassifizieren und Daten aufnehmen können. Es bestehe nun die Hoffnung auf Unterstützung durch KI, um diese Strafzumessungsdatenbanken automatisiert zu erstellen.
Ihren Vortrag schloss Frauke Rostalski mit der Vorstellung eines Roboter-Richter-Konzepts, Iudex ex machina. Diese Entscheidungsersetzungssoftware könnte faktisch selbst Urteile fällen. Allerdings mangelt es KI-Systemen an einer in der Rechtsprechung zentralen Eigenschaft: dem Abwägen von Gründen. Auch sei es entscheidend, dass die sich ändernde Rechtsprechung und Gesetzgebung vollständig berücksichtigt werde und ältere, überholte Grundsätze nicht mehr berücksichtigt werden. Sie schloss mit dem Fazit, dass in der Justiz die Übernahme von Verantwortung weiterhin von zentraler Bedeutung sei, die letzte Entscheidung müsse immer der Mensch treffen. Jedoch sollten KI-Anwendungen als hilfreiches Werkzeug zur Verfügung stehen.
Ist die Justiz bereit für KI? Und welche Unterstützung wird benötigt?
Stefan Schifferdecker, Deutscher Richterbund – Landesverband Berlin, bestätigte: Der Einsatz eines Robo-Richters in Deutschland sei nicht absehbar, verantwortliche Entscheidungen treffe nach wie vor nur der Mensch. Nichtsdestotrotz werde die Justiz zukünftig nicht ohne KI auskommen. Die vorrangige Frage sei nicht ob, sondern wie schnell Unterstützung von KI zu erwarten sei. Trotz Rückgang der Verfahrensanzahl nehme die Arbeitsbelastung zu, denn die Verfahren würden immer umfangreicher, die Dauer damit immer länger und die zu berücksichtigende Datenmenge immer größer. KI-Anwendungen könnten Richterinnen und Richter nachhaltig entlasten. Jedoch benötige auch die Justiz eine bessere Technologiekompetenz, um zu entscheiden, welche Produkte sie nutzen und welchen sie vertrauen können.
Sein Wunsch sei eine Software zur Anonymisierung und Übersetzung sowie eine KI, die Daten auswertet und zuordnet. Aufgabe der Richterschaft sei es dann, einen ethischen Kompass für deren Einsatz zu entwickeln. Ziel sei es, das Vertrauen in Entscheidungen zu stärken und zu gewährleisten, dass trotz KI-Anwendung gerechte Urteile gefällt werden. Die zu erzielenden Effizienzgewinne seien dabei beträchtlich und vereinzelt auftretende Fehler könnten durch die bereits etablierten Kontrollinstanzen wieder ausgeglichen werden, so Stefan Schifferdecker auf die Frage von Moderatorin Linda Treugut, Plattform Lernende Systeme, nach der Wirkungsweise richterlicher Kontrolle der KI-Empfehlungen in der Praxis.
Wie kann KI uns als Verbraucher rechtlich unterstützen?
Jan-Frederik Arnold, CEO und Geschäftsführer Flightright GmbH, sprach in seinem Beitrag über die Nutzung und die Aufgaben von Künstlicher Intelligenz im Unternehmen. Die Flightright GmbH hat im ersten Schritt verstärkt in digitalisierte und automatisierte Prozessschritte investiert. Seit rund sechs Jahren werde Maschinelles Lernen genutzt, um die Wahrscheinlichkeit außergewöhnlicher Umstände zu berechnen, die Entschädigungszahlungen durch Airlines verhindern. Dafür werden aus der hauseigenen Datenbank eine Vielzahl von strukturierten Daten genutzt: Beispielsweise Daten zu Flug, Wetter und Flugverkehrskontrolle. Darüber hinaus gebe es Pilotprojekte mit großen Sprachmodellen, um aus eingereichten Dokumenten relevante Daten herauszufiltern. Derzeit werden alle Ergebnisse der KI zusätzlich von einem Menschen geprüft, so Jan-Frederik Arnold zu aktuellen Entwicklungen des KI-Einsatzes.
Die Schlussrunde widmete sich der Frage, wie KI in Zukunft in unserem Rechtswesen sicher und vertrauenswürdig zum Einsatz kommen kann. Frauke Rostalski hob nochmals hervor, wie wichtig es sei, Urteile anonymisiert zu veröffentlichen, damit diese ausgewertet werden können, um Vergleichbarkeit zu schaffen. Außerdem müssten sich Richterinnen, Richter und Staatsanwaltschaften die erforderlichen Kompetenzen aneigneten. Stefan Schifferdecker ergänzte, dass für die Entwicklung entsprechender Werkzeuge viel Geld benötigt werde. Dazu sollten sich alle Bundesländer zusammenschließen, damit die Umsetzung nicht an zu begrenzten Mitteln scheitere. Jan-Frederik Arnold betonte, dass Kooperationen zwischen Justiz und Legal-Tech-Unternehmen benötigt werden, um Schnittstellen und gemeinsam nutzbare Standards zu entwickeln und zu schaffen.