Klimaneutrales Deutschland: Optionen für die Weiterentwicklung der industriellen Produktion
München, 27. April 2023
Klimaneutralität bis 2045 ist das große Ziel Deutschlands. Dazu braucht es rasche und ambitionierte Maßnahmen, bei denen alle Akteure gemeinsam an technischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Lösungsansätzen arbeiten, um diese Transformation zu erreichen. acatech am Dienstag am 25. April richtete den Fokus auf den anstehenden Umbau der Industrie. Ausgangspunkt waren Einblicke in die im Akademienprojekt Energiesysteme der Zukunft (ESYS) formulierten Handlungsoptionen, die von zwei Experten aus Wirtschaft und Politik kommentiert wurden.
Der Umgang mit den großen globalen Herausforderungen wie Corona-Pandemie, Klimawandel und Kriegen verlange ein gut strukturiertes Vorgehen, eröffnete acatech Präsident Jan Wörner die acatech am Dienstag-Ausgabe am 25. April. Am besten gelinge dies jeweils mit einem Vierklang aus: Entdeckung, Monitoring, Aufmerksamkeit schaffen und Bekämpfung/Adaption. Die Aufmerksamkeit für den Klimawandel sei bereits vorhanden, jetzt gelte es zu handeln.
In ihrem Eingangsimpuls stellte Anke Weidlich, Professorin am Institut für nachhaltige technische Systeme (INATECH)an der Universität Freiburg und AG-Leitung „Szenarien für eine klimaneutrale integrierte Energieversorgung und Produktion“ im Akademienprojekt ESYS, die Ergebnisse der Arbeitsgruppe zum Umbau der Industrie vor. Basierend auf Modellrechnungen und unterschiedlich ambitionierten CO2-Reduktionszielen entwickelte das Gremium aus Expertinnen und Experten verschiedene Handlungsoptionen. Im Kern emissionsfreier, also klimaneutraler Industrieproduktion stehen drei Schwerpunkte: Aufbau einer Kreislaufwirtschaft, Materialeffizienz und Substitution sowie klimaneutrale Prozesse.
Am Beispiel Zement machte Anke Weidlich deutlich, was damit gemeint ist: Bereits bei der Planung von Bauten sei die Recyclingfähigkeit zu berücksichtigen und beim Rückbau entstehende Abfälle sollten sortenrein gesammelt und wieder- bzw. weiterverwertet werden. Da Zement für den größten Anteil schädlicher CO2-Emissionen in der Bauindustrie verantwortlich ist, müssten neue Materialien mit vergleichbaren Eigenschaften entwickelt werden und – wo möglich – eine Substitution durch Holz erfolgen. Energieintensive Prozesse sollten weitestgehend auf Biomasse oder grünen Wasserstoff umgestellt werden, verbleibende CO2-Emissionen mittels CCS (Carbon capture and storage) oder CCU (carbon capture and utilization) abgeschieden und gespeichert werden.
Eike Blume-Werry vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) machte in seinem Statement deutlich, dass die Industrie für diesen Umbau durchaus bereit ist und Anstrengungen unternehmen wolle, jedoch in Deutschland auf wenig förderliche Rahmenbedingungen treffe. So sei der Strom im Wettbewerbsvergleich noch immer zu teuer und Verfahren zu langwierig. Erneuerbare Energien müssten dort Strom bereitstellen, wo dieser gebraucht werde und eine entsprechende Infrastruktur für grünen Wasserstoff und Strom sei schnellstmöglich aufzubauen, da Unternehmen sonst keine Anreize für Investitionen sähen. Je schneller dieser Ausbau erfolge, desto besser, da durch die Elektrifizierung von Wärmeprozessen bis 2030 jährlich zusätzlich die Strommenge der Schweiz benötigt werde.
Im letzten Jahr habe im Zentrum der politischen Arbeit die schnelle und zielgerichtete Reduktion der steigenden Energiekosten gestanden, so Jan-Peter Wißborn, Fraktionsreferent Energie und Klimaschutz bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zur Arbeit in den Bundestagsausschüssen. Doch nun sei es an der Zeit, den Klimaschutz durch ambitionierte Anstrengungen zu beschleunigen. Eine Ergänzung des CO2-Preises und Zertifikatehandels durch CO2-Differenzverträge sowie weitere Maßnahmen seien für eine größere Wirksamkeit erforderlich. Die Weichen für CCS/CCU sowie den Einsatz von grünem Wasserstoff in Gaskraftwerken müsse vorangebracht werden. Begleitet werden müssten die Vorhaben durch weitere Entbürokratisierungsmaßnahmen, um den Unternehmen den Umstieg zu erleichtern.
Für die Schlussrunde fragte Moderator Marc-Denis Weitze von der acatech Geschäftsstelle nach einem Ausblick und den nächsten notwendigen Zielen, um bis 2045 klimaneutral zu werden.
Jan-Peter Wißborn betonte seine Zuversicht, verwies jedoch auf die großen anstehenden Herausforderungen. Es müsse schnellstmöglich gehandelt werden, um die Wasserstoffstrategie erfolgreich fortzuschreiben und eine Begrenzung des Strompreises zu erreichen.
Ganz so positiv konnte Eike Blume-Werry nicht in die Zukunft schauen. Die bisher erreichten Einsparungen seien seiner Meinung nach vor allem auf eine reduzierte Produktion zurückzuführen. Daher müssten die erneuerbaren Energien viel schneller ausgebaut werden, Strom müsse günstiger werden und ein massives Hochfahren der Infrastruktur von Stromnetzen, Wasserstoffpipelines sowie Ladesäulen sei erforderlich und müsse von einer „Revolution“ der Planungs- und Genehmigungsverfahren begleitet werden.
Die Arbeit in der AG zeige nach Meinung von Anke Weidlich deutlich die Spanne von Optimismus zu Pessimismus auf – letztlich überwögen aber die optimistischeren Eindrücke. Einerseits passten die nun formulierten Ausbauziele der Bundesregierung zu den in der ESYS-Studie und weiteren Studien beschriebenen Empfehlungen. Andererseits müssten diese Ziele auch erreicht und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Große Hoffnung setzt Anke Weidlich auch auf die Ausweitung und Verschärfung des europäischen Emissionshandels, dieser könne tatsächlich eine spürbare Wirkung entfalten.