Konflikte, Verzweiflung, Hoffnung
5. Juni 2024
In diesen Tagen erleben wir wieder viel Grausamkeit oder besser: Uns wird über die Medien viel über Grausamkeiten berichtet.
Vom Sofa aus betrachtet ist das alles schon bedrückend. Es wird aber noch sehr viel dramatischer, wenn man es selbst erlebt oder von Opfern im persönlichen Gespräch erfährt. Menschen, die selbst von Gewalt und Grausamkeiten betroffen sind – und das tagtäglich oder jahrelang – bedürfen weit mehr als unserer Solidarität und unseres Mitgefühls. Ich war an einigen Orten unserer Welt, an denen Menschen unter unwürdigen Umständen leben. So konnte ich mir beispielsweise in den Townships von Kapstadt einen eigenen Eindruck machen und war bedrückt.
Noch mehr aber hat mich eine Geschichte berührt, die jetzt schon über 20 Jahre zurückliegt. Zu der Zeit war ich Präsident der Technischen Universität Darmstadt und es geht um die Anstecknadel von Yad Vashem:
Die Anstecknadel zeigt eine Pflanze, die aus einem Stacheldraht wächst. Sie weist damit auf die Vergangenheit hin und drückt Hoffnung aus. Doch zunächst die ganze Geschichte:
Karl Plagge war Anfang des 20. Jahrhunderts ein Student der Technischen Hochschule Darmstadt. Im September 1939 wurde er als Ingenieuroffizier zur Wehrmacht eingezogen. Als Major war Plagge ab 1941 der Leiter des Heereskraftfahrparks (HKP) 562 Ost im litauischen Vilnius).
In dieser Position half er vielen Jüdinnen und Juden und konnte damit ihr Überleben sichern. Bekannt wurde er auch durch den Begriff „Der Schindler in Uniform“. Eine Gruppe von Überlebenden bemühte sich mehrere Jahre darum, Karl Plagge als „Gerechter und den Völkern“ in Yad Vashem zu ehren. Schließlich wurde die Ehrung 2005 ausgesprochen, fast 50 Jahre nach seinem Tod.
In Ermangelung naher Angehöriger wurde ich als Präsident der TU Darmstadt eingeladen, bei der Ehrung in Yad Vashem dabei zu sein. Ich hatte Gelegenheit dort öffentlich zu reden, sicherlich die schwierigste Rede meines Lebens. Die Überlebenden, die an der Zeremonie teilnahmen, erzählten ihre fürchterlichen Erfahrungen im Lager, und wie es Karl Plagge immer wieder gelang, auch in den schlimmen Zuständen Maßnahmen zu ergreifen, um Jüdinnen und Juden zu retten. Die dramatischen Situationen des Versteckens unter dem Fußboden, die Verzweiflung der Menschen – all das drang durch die unmittelbaren Berichte der Zeitzeugen in mein Gehirn ein. Trotz oder wegen der Berichte über die Todesängste und Verzweiflung entstand eine Nähe und ein Vertrauensverhältnis der besonderen Art zu den Überlebenden.
Nach dieser Begegnung in Israel luden wir die Überlebenden nach Darmstadt ein. Während einer Abendveranstaltung stand einer der Gäste auf und ging auf mich zu. Er sagte: „Als ich das Lager überlebt habe, habe ich mir geschworen alle Deutschen für immer zu hassen – aber die Erfahrungen der letzten Tage machen den Unterschied.“ Mit diesen Worten nahm er die Anstecknadel von seinem Revers und steckte sie mir an… noch heute, fast 20 Jahre später, berührt mich die Erinnerung.
Was hat das mit der heutigen Situation in Israel, Gaza, Ukraine und den vielen anderen kriegerischen Konflikten zu tun?
Der Mensch ist immer wieder grausam. Auch heute sind Krieg und Terror als Mittel zur Durchsetzung von Ideen und Vorstellungen präsent. Dabei zählt der einzelne Mensch, dem unser Grundgesetz schon in Artikel 1 die ganze Aufmerksamkeit geschenkt wird, offensichtlich nicht sehr viel. Tote, Verwundete und andere Opfer werden allenfalls in Zahlen dargestellt.
Ich hatte immer gehofft, dass die Menschheit aus den Grausamkeiten der Vergangenheit genug gelernt hat. Aber wir müssen erkennen, dass Angriffen auch immer wieder mit Waffen entgegnet werden muss. Das ist über alle Maße bedauerlich und schrecklich.
Frieden und Freiheit sind Werte, die als Grundlage zur Sicherung der Würde jedes einzelnen Menschen von großer Bedeutung ist. Wie uns die aktuelle Situation des Krieges gegen die Ukraine lehrt, bedarf es zuweilen nicht nur der Worte, sondern auch des militärischen Einsatzes, um Recht, Gerechtigkeit und Freiheit zu verteidigen. Die damit verbundene Gewalt, durch die Menschen sterben, steht in einem Widerspruch zum Prinzip, jedes einzelne Leben und seine Würde zu schützen.
Die Anstecknadel von Yad Vashem drückt diese Verzweiflung durch den Stacheldraht aus, die Pflanze darüber setzt ein Zeichen für Hoffnung.