TechnikRadar 2021 – Einblicke in die Zukunft der Gesundheit
München, 15. Juni 2021
Elektronische Patientenakte, Apps auf Rezept, digitale Vernetzung der Akteure: Die Digitalisierung des Gesundheitssystems steht in Deutschland längst auf der Agenda. Was wir davon erwarten können, welche Befürchtungen mit dem Thema verknüpft sind und welche Zielkonflikte es zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren gibt, untersucht das TechnikRadar 2021 von acatech, der Körber-Stiftung und dem Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart. In einer Kooperationsveranstaltung am 15. Juni wurden zentrale Ergebnisse der Studie vorgestellt und diskutiert.
Die digitale Transformation sei maßgeblich durch die Pandemie vorangetrieben worden, stellte acatech Präsident Jan Wörner in seiner Begrüßung fest. Damit ergäben sich neue Prozesse, neue Themen, neue Chancen aber auch neue Sorgen. Die Zukunft der Medizin sei schon jetzt spürbar, erklärte auch Tatjana König, Vorständin der Körber-Stiftung. Gerade in der Pandemiebekämpfung spielen digitale Anwendungen, wie die Corona-Warn-App oder die online Vergabe von Impfterminen eine große Rolle. Wichtig sei es, mit der Gesellschaft zu diesen Innovationen in einen Dialog zu kommen.
Im ersten Teil der Veranstaltung stellte Cordula Kropp, Projektleitung des TechnikRadars und Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart, die Ergebnisse der Stakeholderbefragung vor. Das Technikradar solle eine Grundlage für die gesellschaftliche Debatte über Innovation darstellen und damit zu einer verantwortungsvollen Ausgestaltung der Technologien beitragen.
Anschließend wurde das TechnikRadar von drei Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Medizin und Industrie kommentiert. Den Anfang machte Elsa Andrea Kirchner, Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) GmbH. Sie betonte, dass algorithmische Systeme sehr gut darin seien, Muster zu erkennen. Korrelationen seien aber noch keine kausale Erklärung, hier sei der Mensch besser geeignet, die Zusammenhänge zu hinterfragen. So würden sich Mensch und Maschine gut ergänzen. Ein Algorithmus basiere auf einer gewissen Datenbasis, während Ärztinnen und Ärzte ihr individuelles Erfahrungswissen miteinfließen lassen können, was auch eine Stärke sein könnte. Digitale Anwendungen könnten Assistenzfunktionen einnehmen, beispielweise die Messung des Blutzuckerspiegels über den Tag hinweg oder die situative Unterstützung der Muskulatur durch ein Exoskelett. Gleichzeitig thematisierte die Wissenschaftlerin auch die Risiken der Digitalisierung im Gesundheitssystem: Der Patient könne sich selbst bevormunden durch überzogene Vorstellungen von Gesundheit, der Wunsch nach Nichtwissen werde möglicherweise stigmatisiert und soziale Unterschiede könnten sich vergrößern.
Thomas Lenarz, Direktor der HNO-Klinik und des Deutschen HörZentrums der Medizinischen Hochschule Hannover sprach über den Nutzen, den große Datenmengen für einzelne Patientinnen und Patienten bedeuten können. Durch die Integration und sinnvolle Verarbeitung großer Datenmengen mit hinterlegten Patientenmodellen, könnten durch Fortschritte in der Medizintechnik individualisierte Diagnosen abgeleitet werden. Während die Präzisionsmedizin im Bereich der Krebstherapien noch nicht so weit sei, könnten gerade bei personalisierten Implantaten schon gute Ergebnisse erzielt werden. Außerdem werde die Telemedizin durch die demografische Entwicklung immer zentraler, um eine umfassende Gesundheitsversorgung sicherzustellen. In der Notfallversorgung könnten beispielsweise Drohnen Blutkonserven an den Unfallort transportieren. Auch die Resilienz im Gesundheitswesen könne durch Digitalisierung erhöht werden.
Das TechnikRadar stellt umfassend dar, welche Chancen und Risiken die Digitalisierung des Gesunheitswesens birgt, so die Einschätzung von Bernd Ohnesorge, President Europe, Middle East & Africa der Siemens Healthineers. Auch die unterschiedlichen Ausprägungen der Digitalisierung seien differenziert thematisiert worden: Unterschieden worden sei zwischen den Daten in der elektronischen Gesundheitsakte, telemedizinischen Anwendungen, sowie datengetriebenen Medizinverfahren. Im Bezug auf die elektronische Gesundheitsakte müsse man auch die Nachteile der analogen Akte in den Blick nehmen, welche zu Doppeluntersuchungen und einem Bruch zwischen stationärer und ambulanter Medizin führen könnten. Im Bereich der datengetriebenen Medizin müsse man stärker vermitteln, dass KI-Technologien keine künstlichen Wesen seien, sondern die Summe der Erfahrungen vieler Millionen klinischer Entscheidungen, die Menschen getroffen haben. Der Arzt oder die Ärztin solle dabei nicht ersetzt, sondern lediglich entscheidungssicherer gemacht werden.
Zum Abschluss der Veranstaltung teilte Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor des IASS und acatech Präsidiumsmitglied, fünf Gedanken zum Thema Digitalisierung und Medizin: Erstens sei Technik immer ambivalent und komme mit Chancen und Risiken. Es sei dann die Aufgabe der Regulierung, die Chancen zu nutzen und die Risiken zu begrenzen. Zweitens gebe es einen zentralen Zielkonflikt zwischen Datensouveränität und Datensolidarität. Während die Weitergabe von Daten potenziell den Gesundheitszustand verbessern könne, bestehe immer auch die Gefahr eines Missbrauchs. Drittens sei der Umgang mit Daten in Deutschland schizophren: Während sehr großzügig Daten an private Anbieter weitergegeben werden, stünden viele Bürgerinnen und Bürger der öffentlichen Nutzung von Daten, beispielsweise durch die Gesundheitsämter, skeptisch gegenüber. Viertens müsse Data Literacy als Schlüsselkompetenz gestärkt werden. Patientinnen und Patienten sollten souverän mit ihren Informationen umgehen können und selektiv Zugänge erlauben. Zum Schluss betonte Ortwin Renn, dass KI kein Zauberlehrling sei, und Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte nicht ersetzen könne, sehr wohl aber die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern könne. Insgesamt könne so die flächendeckende und zeitunabhängige Versorgung verbessert werden, wenn die Risiken eingegrenzt werden können.
Im Verlauf der Veranstaltung wurden die Teilnehmenden in digitale Kleingruppen aufgeteilt, um folgende Frage zu diskutieren: „Würden Sie Ihre medizinischen Daten weitergeben und für die Forschung zur Verfügung stellen?“
Die einzelnen Gruppen kamen zu folgenden Ergebnissen (Auswahl):
- „Daten teilen ja, bei genomischen Daten: Absprache mit meinen Kindern“
- „Prinzipiell ja, in vielen digitalen Umgebungen gehe ich ziemlich freizügig mit meinen Daten um. Aber bei tieferer Auseinandersetzung etwas vorsichtiger. Auf jeden Fall würde ich keinen Blankoscheck ausstellen“
- „Generell eher die Frage verneint. Unter bestimmten Bedingungen wie Vertrauen in die Institutionen, Nutzenintention, Zwecke etc. könnte eine Weitergabe akzeptiert werden. Dennoch sollte es immer eine bewusste Entscheidung sein.“
- „Daten für Forschung freigeben – ja! Nach Info über konkrete Studie und Erhalt der Studienergebnisse.“
- „Es gibt einen Unterschied zwischen der unmittelbaren Nutzung (Teilen von Daten mit Ärztinnen und Ärzten) und weiter entfernt liegenden Daten: Teilen für die Forschung. Letzteres empfinden wir als weniger problematisch, da sich dies häufig auf weniger personenbezogene Datensätze beläuft. Die größere Befürchtung ist die Qualität der Daten – kann diese auf Dauer aufrechterhalten werden oder entstehen auf Dauer Probleme hinsichtlich der Datenqualität?“
- „Anonymisiert für wissenschaftliche Zwecke – sehr gerne! Persönliche Daten nur mit besonderer Einschränkung und individueller Freigabe (z.B. Versicherungen etc.). Kommerzieller Einsatz: eher nein oder nur mit individueller Freigabe.“