„In einer Krise muss man nach innovativen Lösungen suchen“
München, 24. Juni 2020
Die Möglichkeit, aus dem Home-Office zu arbeiten, war und ist während der Corona-Krise ein wichtiger Faktor, um die deutsche Wirtschaft am Laufen zu halten. Darin sind sich Expertinnen und Experten ziemlich einig. Doch nicht alle gesellschaftlichen Gruppen kamen mit dem neuen Arbeitsalltag gleichermaßen zurecht, weiß Jutta Allmendinger, acatech Mitglied und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Im Interview spricht sie über die konkreten Herausforderungen, unkonventionelles Denken in Krisensituationen und die Gefahr einer „Retraditionalisierung“ der Arbeitswelt. (Interview: Tim Frohwein)
Frau Allmendinger, viele Familien und Haushalte sahen sich durch die Home-Office-Situation vor enorme Herausforderungen gestellt, gerade während des Lockdowns. Welche Herausforderungen sind das und welche gesellschaftlichen Gruppen sind besonders betroffen?
Aktuelle Daten des Sozio-oekonomischen Panels zeigen, dass es vor allem zwei Gruppen in der Phase des Lockdowns besonders schwierig hatten: Alleinstehende und Familien mit Kindern unter 16 Jahren, wobei die Frauen in diesen Familien stärker betroffen waren als die Männer. Während die Alleinstehenden vor allem unter den Kontaktbeschränkungen zu leiden hatten, weil ja nicht nur der soziale Austausch im Privaten, sondern auch am Arbeitsplatz weggefallen ist, litten die Familien mit Kindern stark darunter, Arbeit und Kinderbetreuung bzw. Home-Schooling miteinander zu vereinbaren.
Aktuell werden viele Beschränkungen wieder gelockert, Schulen und Kindergärten langsam wieder geöffnet. Was hätte man während des Lockdowns besser machen können, um gerade Familien zu entlasten?
Ich finde, man hätte in dieser Zeit mehr „Out of the Box“ denken müssen. Es hätte beispielsweise die Möglichkeit bestanden, ein vorübergehendes Unterstützungssystem für Familien zu entwickeln: Studierende, die während der Krise ohne Nebenjob dastanden oder Beschäftigte, die auf Null- oder Kurz-Arbeit heruntergestuft waren, hätten helfen können. Man hätte diese Personen auf das Virus testen und an Familien vermitteln können. Anschließend hätten sie ein paar Stunden in der Woche Kinder betreuen oder beim Home-Schooling unterstützen können. Das hätte viele Familien enorm entlastet.
In Deutschland hängt man zu stark an den vorhandenen Institutionen: Kinder gehören in der Vorstellung vieler eben in Kindergärten oder Schulen – über andere Möglichkeiten macht man sich zu wenig Gedanken. In einer Krise aber muss man nach innovativen Lösungen suchen.
Nun ändert sich die Betreuungssituation wieder. Kann die neue Akzeptanz für das Home-Office nun auch ihre positive Potenziale entfalten?
Das Home-Office hat definitiv viele Vorteile für Beschäftigte: Man kann die Zeit besser nutzen, weil z.B. der Weg zum Arbeitsplatz wegfällt, was darüber hinaus noch ökologisch sinnvoll ist. Man kann hier und da etwas erledigen, sich eher um kranke Kinder kümmern, einen plötzlichen Schulausfall auffangen. Was Untersuchungen zum Home-Office aber auch zeigen: Die Menschen knüpfen weniger neue soziale Kontakte. Stattdessen vertiefen sie die Bindungen zu Personen, die sie schon kennen. Am Rande von Zoom-Konferenzen gibt es eben keine Möglichkeit zum Networking, wie das bei einer Präsenzveranstaltung der Fall wäre. Dazu fallen Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxis weg – alles Gelegenheiten, um mit Menschen außerhalb der eigenen Blase in Berührung zu kommen. Dass es zu diesen Berührungen kommt, ist für den Zusammenhalt und die Verständigung in einer Gesellschaft sehr wichtig. Von daher finde ich es schon gut, dass über ein Recht auf Home-Office nachgedacht wird – aber immer verbunden mit der Pflicht, regelmäßig auch vor Ort arbeiten zu müssen. Dies sichert auch einen wichtigen Teil des Zusammenhalts unserer Gesellschaft.
Sie haben davon gesprochen, dass es im Zuge der Krise zu einer „Retraditionalisierung“ kommen wird – mit negativen Konsequenzen für Frauen in der Arbeitswelt. Wie meinen Sie das?
Wir haben beobachtet, dass während der Krise die Belastung für viele Frauen enorm gestiegen ist. Das liegt in den meisten Fällen daran, dass sie in den vergangenen Monaten und auch aktuell noch deutlich mehr Zeit mit nicht-bezahlter Arbeit zubringen müssen – während der Anteil bezahlter Arbeit zurückgeht, etwa aufgrund von Kurzarbeit. Frauen werden im Zuge der Krise also wieder stark in die Rolle der „Zuverdienerin“ gedrängt. Das wird Narben hinterlassen.