acatech STUDIE: Den Fachkräftemangel überwindet Deutschland nur mit einem Kulturwandel und mehr Migration

Berlin/München, 20. Juni 2023
acatech STUDIE Innovationssystem Deutschland: Die Fachkräftesicherung in Deutschland unterstützen
Fehlende Fachkräfte sind bereits eine große, für manche Betriebe existenzbedrohende Herausforderung, und bald verlassen die Babyboomer den Arbeitsmarkt. Was tun? In einer heute erschienenen Studie bewertet acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften Möglichkeiten in der Arbeitsmarkt-Partizipation, Migration, Digitalisierung und Bildung. Deutschland braucht Veränderung in allen vier Handlungsfeldern und muss dabei historisch gewachsene Strukturen aufbrechen. Um mehr ausländische Fachkräfte zu gewinnen, braucht es ein politisches Bekenntnis zur Erwerbsmigration und eine serviceorientierte, ermöglichende Behördenkultur. Zur Studie
Die erste Ausgabe der Studienreihe „Innovationssystem Deutschland“ widmen Christoph M. Schmidt (acatech Vizepräsident, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) und Ann-Kristin Achleitner (acatech Vizepräsidentin, Technische Universität München) der vielleicht größten Herausforderung des hiesigen Innovationsstandortes: dem Fachkräftemangel.
Die gegenwärtigen Engpässe sind lediglich die Spitze des Eisbergs, denn der demographische Wandel kommt schleichend, aber unausweichlich. Wenn Deutschland nachhaltigen Wohlstand am Innovations- und Wirtschaftsstandort Deutschland bewahren und mehren möchte, müssen inländische und ausländische Erwerbspersonenpotenziale jetzt ausgeschöpft und das schleppende Wachstum der Arbeitsproduktivität gezielt angekurbelt werden.“
Christoph M. Schmidt, acatech Vizepräsident, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung
Vier Handlungsfelder hat die Arbeitsgruppe wissenschaftsbasiert ausgeleuchtet und dazu mit mehr als 50 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und NGO diskutiert.
Partizipation am Arbeitsmarkt erschließt inländische Reserven
Auch wenn die Arbeitslosigkeit niedrig ist, sollten verbleibende Arbeitssuchende aktiv auf ihrem Weg in die Erwerbstätigkeit begleitet werden. Viel wäre zu holen, wenn mehr Teilzeitbeschäftigte ihre Arbeitszeit erhöhen können – das setzt bessere Angebote für Kinderbetreuung und Pflege voraus. Gleichzeitig sollte die wachsende Gruppe älterer Menschen länger am Arbeitsmarkt teilnehmen: Hier braucht es attraktivere Zuverdienstmöglichkeiten während des Rentenbezugs, aber auch einen gesellschaftlichen Diskurs über das Renteneintrittsalter. Insgesamt sollten flexiblere Beschäftigungsformen Erwerbsarbeit mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten besser vereinbar machen.
Migration und Integration werden unverzichtbar
Inländische Reserven werden bei Weitem nicht ausreichen. Eine stärkere Zuwanderung von Fachkräften wird deshalb unabdingbar. Dafür muss Deutschland an Attraktivität als Einwanderungsland gewinnen und sowohl das Ankommen als auch das Bleiben erleichtern. Insbesondere die Visabeantragung und Berufsanerkennung müssen verschlankt, digitalisiert und zentralisiert werden – durch gut ausgestattete, digitalisierte öffentliche Einrichtungen. Christoph M. Schmidt: „Es braucht ein gesellschaftliches wie politisches Bekenntnis zur Erwerbsmigration und eine serviceorientierte, ermöglichende Behördenkultur.“ Ein Pluspunkt: Für ausländische Studierende ist das kostenlose deutsche Bildungssystem bereits attraktiv – es liegt nahe, sie schon während des Studiums für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen.
Digitalisierung und Automatisierung erhöhen die Arbeitsproduktivität
Ein Mangel an Fach- und Arbeitskräften lässt sich auch abdämpfen, indem Arbeit digital unterstützt und damit produktiver wird. Noch ist dieser Produktivitätsfortschritt kaum erkennbar. Wichtige Voraussetzungen sind der zügige Auf- und Ausbau der physischen und digitalen Infrastruktur, die Vereinfachung des Datenschutzes sowie die Vermittlung digitaler Kompetenzen. Hilfreich wäre auch eine niederschwellige Unterstützung für kleine und mittelständische Unternehmen in der Digitalisierung. Auch der Staat kann Digitalisierungsimpulse setzen: So sollte der Bund zentral Identitätsdienste, Standards und Schnittstellen bereitstellen, die eine dezentrale Digitalisierung unterer Ebenen erst ermöglichen. Die dafür erforderlichen Ressourcen und Kompetenzen sollten an zentraler Stelle gebündelt werden.
(Weiter-)Bildung stärken
Die Aus- und Weiterbildung ist eine Voraussetzung produktiven Arbeitens und wirkt komplementär zu allen anderen Handlungsfeldern. Besonders die Vermittlung von Grundkompetenzen als gute Ausgangsbasis muss gestärkt werden. Ebenso wichtig werden digitale Kompetenzen von Lernenden und Lehrenden sowie die Berufswahlkompetenz. Diese lässt sich über mehr Praxisinhalte in den Lehrplänen und verstärkte Arbeitsmarkttransparenz durch verständliche Trendberichte über Entlohnung und Beschäftigung stärken. Lebenslanges Lernen sollte gezielt gefördert werden, vor allem bei Personen mit geringer Weiterbildungsbeteiligung. Eine Modularisierung der Aus- und Weiterbildung sollte die internationale Anschlussfähigkeit erleichtern – ausländische Fachkräfte müssten dann nur die Module nachholen, die ihnen noch für eine Qualifikation in Deutschland fehlen. Mehr Beteiligung verspricht darüber hinaus die Konzentration von Bildungs- und Beratungsangeboten in einer einheitlichen Bildungsplattform.
Deutschland muss dringend die Herausforderung annehmen
Nur mit guter Fachkräftebasis kann die hiesige Volkswirtschaft im internationalen Innovationswettbewerb erfolgreich bleiben. Die Bundesregierung hat viele der damit verbundenen Herausforderungen identifiziert – doch die Umsetzung ist zäh. „Es wird nötig sein, historisch gewachsene Strukturen zu hinterfragen und zu verändern“, sagt Christoph M. Schmidt. „Dabei werden Politik und Gesellschaft schwierige, unbequeme Diskussionen führen müssen – etwa über die Erwerbstätigkeit im Alter, über die Steuerung von Zuwanderung oder auch über grundlegende Reformen im Bildungssystem.“
Deutschland muss das Land sein, das jungen wie älteren Menschen, hier Geborenen wie Zugezogenen beste Bildungs-, Berufs- und Entwicklungschancen bietet. Ich danke der Arbeitsgruppe um Ann-Kristin Achleitner und Christoph M. Schmidt für ihre umfassende Arbeit. Sie zeigt: Nur mit einer guten Fachkräftebasis bleibt das Innovationssystem Deutschland wettbewerbsfähig und attraktiv.“
Thomas Weber, acatech Präsident
Weiterführende Informationen
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