„Die Wahrnehmung von MINT-Bildung wird sich verändern – zum Positiven“
München, 30. April 2020
acatech Mitglied Olaf Köller ist aktuell einer der gefragtesten Bildungsexperten in Deutschland. Der Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) leitet das MINT Nachwuchsbarometer von acatech und Körber-Stiftung, das am 6. Mai veröffentlicht wird. Im Interview erklärt er, wie digitales Lernen und Lehren während der Corona-Krise organisiert werden kann – und warum er die Krise als Chance für die MINT-Bildung sieht. (Interview: Tim Frohwein)
Herr Köller, bis zu den Sommerferien, so schlägt es die Kultusministerkonferenz vor, wird an deutschen Schulen kaum Präsenzunterricht stattfinden. Stattdessen werden Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte weiterhin auf die Möglichkeiten der digitalen Bildung setzen müssen. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hürden für gelingendes digitales Lehren und Lernen?
Es gibt hier mehrere Hürden und Problemstellungen. Zum einen ist die technische Ausstattung von Schulen immer noch nicht ausreichend. Das heißt, es gibt zu viele Schulen, die beispielsweise nicht über WLAN oder leistungsfähige Rechner verfügen, so dass die Lehrkräfte dort nicht sinnvoll arbeiten können. Neben der Hardware fehlt es dazu häufig auch an Software: Die Lehrkräfte können auf den Schulcomputern oft nicht auf geeignete Lernprogramme, mit denen beispielsweise auch Lernfortschritte beobachtet werden können, zurückgreifen – und wenn diese Programme doch vorhanden sind, haben Lehrerinnen und Lehrer oftmals Schwierigkeiten, mit ihnen umzugehen. Es ist daher keine Überraschung, wenn Schülerinnen und Schüler mit der aktuellen Homeschooling-Situation und dem Lernen am Laptop überfordert sind – sie haben eben in der Schule bislang keine oder zu wenige Erfahrungen damit gemacht.
In vielen Haushalten fehlt es an technischer Ausstattung
Was wir in dieser Krise auch nicht vergessen dürfen: Nicht nur in Schulen, auch in vielen Haushalten fehlt es an technischer Ausstattung. Da gibt es vielleicht in der Familie nur einen einzigen Laptop, um den die Familienmitglieder jetzt gewissermaßen ständig konkurrieren. Dieses Beispiel zeigt auch die Grenzen der aktuellen Debatte um digitale Bildung.
Inwiefern?
Wir müssen bei allen Konzepten, die wir im Zusammenhang mit digitaler Bildung gerade entwickeln, bedenken: es gibt in Deutschland viele sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche, die zuhause gar keine oder nicht die richtige technische Ausstattung haben oder sich nicht in ein eigenes Zimmer zurückziehen können. Will man – auch mit Blick auf die Zeit nach der Krise – die Digitalisierung von Bildung vorantreiben, muss man erst einmal in vielen Haushalten die Voraussetzungen dafür schaffen. Das bedeutet beispielsweise, dass man Personen mit technischen Geräten, Software, womöglich sogar mit einer Internetverbindung ausstatten muss. Das kann über Subventionen funktionieren. In Härtefällen muss man auch darüber nachdenken, den Betroffenen die Kosten vollständig zu erstatten, ähnlich wie beim Schulessen.
Eine Konsequenz der aktuellen Debatte um digitale Bildung muss also sein: Wir brauchen eine bessere technische Ausstattung – in Schulen, genauso wie in Haushalten.
Es wird gerade viel darüber diskutiert, wie und wo im Bildungssystem die Möglichkeiten digitaler Bildung in dieser Krisensituation zum Einsatz kommen sollten. Haben Sie hier Empfehlungen?
Man sollte diese Möglichkeiten vor allem in den höheren Jahrgängen nutzen. Zum einen bringen die älteren Schülerinnen und Schüler größere Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien mit, zum anderen sind sie eher dazu in der Lage, selbstgesteuert zu lernen.
Je weiter man die Jahrgangsstufen unseres Bildungssystems nach unten klettert, desto stärker sollte man wiederum auf analogen Unterricht setzen. Gerade die didaktischen Konzepte, die in der Grundschule zur Anwendung kommen, funktionieren sehr stark über unmittelbare soziale Interaktion zwischen Schülern und Lehrkräften – und die ist eben nicht möglich, wenn jeder allein zuhause vor seinem Rechner sitzt. Deshalb muss man sich aktuell auch Gedanken darüber machen, wie und unter welchen Bedingungen in den niedrigeren Jahrgängen wieder Präsenzbildung organisiert werden kann.
Gerade in der MINT-Bildung kann man von digitalen Möglichkeiten profitieren
In den höheren Jahrgängen macht digitale Bildung aktuell also durchaus Sinn – das Problem aber ist: Vielen Lehrkräften fehlen die Kompetenzen, die digitalen Möglichkeiten zu nutzen.
Ja, das ist richtig und teilweise ein Versäumnis der Lehreraus- und -fortbildung. Digitale Bildung muss dort deshalb eine größere Rolle spielen. Im Lehramtsstudium muss der Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit technischen Geräten und Software mehr Raum gegeben werden. Und darüber hinaus muss man den Studierenden zeigen, wie man diese digitalen Möglichkeiten fachdidaktisch richtig einsetzt. Gerade in MINT-Fächern kann das übrigens sehr gut funktionieren: beispielsweise indem man interaktive Grafiken einsetzt, um mathematische Modelle zu erklären oder mit Virtual Reality arbeitet, um chemische Prozesse verständlicher zu machen.
Was glauben Sie, wird die Corona-Krise die Digitalisierung der Bildung in Deutschland beschleunigen?
Ich bin überzeugt: Man wird – um eine Wiederholung der aktuellen Situation in Zukunft zu vermeiden – die Digitalisierung des Bildungssystems nach der Krise stärker vorantreiben denn je. Und auch für die angesprochene MINT-Bildung erwarte ich mir einen Schub: Konfrontiert mit all den medizinischen Befunden, den mathematischen Modellen zum Verlauf der Krise, merken viele Menschen in Deutschland gerade, wie wichtig MINT-Kompetenzen sind. Die Wahrnehmung von MINT-Bildung wird sich verändern – zum Positiven.
Live-Stream zur Veröffentlichung des MINT Nachwuchsbarometers 2020
Am 6. Mai 2020 hat Projektleiter Olaf Köller die zentralen Ergebnisse des MINT Nachwuchsbarometers 2020 im Live-Stream vorgestellt. Die Aufzeichnung der Ergebnispräsentation ist hier zu sehen: