„Es ist wichtig, gemeinsam mit den Beschäftigten Lösungen zu entwickeln“: Interview mit Dieter Spath
München, 13. Mai 2020
Solange es keinen Impfstoff gegen das Corona-Virus gibt, wird in Deutschland „Arbeiten mit Abstand“ nötig sein. Wie lässt sich diese Prämisse in Unternehmen und Produktionsstätten am besten umsetzen – ohne dass es zu Lasten der Beschäftigten oder der wirtschaftlichen Produktivität geht? acatech Präsident Dieter Spath, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, nennt im Interview mögliche Ansätze und geht auf Umsetzungsbeispiele ein. (Interview: Tim Frohwein)
Herr Spath, „Abstand halten“ ist das Gebot der Stunde, das gilt auch für die Arbeitswelt. Wie können wir es schaffen, dass für die Beschäftigten gutes und produktives Arbeiten möglich ist, wir aber gleichzeitig dieses Gebot achten?
Wir schaffen das, indem wir die Zahl der Menschen, die gleichzeitig in einem Raum arbeiten, reduzieren. Dafür gibt es wiederum zwei Lösungsansätze: zeitliche und räumliche Distanzierung. Ersteres bedeutet, dass wir die Präsenzarbeitszeiten flexibilisieren und es den Beschäftigten ermöglichen, in wechselnden Schichten zu arbeiten. Räumliche Distanzierung beinhaltet, dass wir die Abstände zwischen den Arbeitsplätzen vergrößern und verfügbare Arbeitsflächen erweitern müssen – zum Beispiel, indem man auf leerstehende Räume oder gar Gebäude ausweicht. Das gilt natürlich alles nur in dieser Ausnahmesituation.
Inwiefern setzen Unternehmen diese Ansätze schon um?
Wir haben uns bei acatech und auch am Fraunhofer IAO in den letzten Wochen viel mit Unternehmen zu diesem Thema ausgetauscht. Dabei sind wir auf viele sinnvolle Lösungen gestoßen. In Fabriken wird beispielsweise mit Markierungen gearbeitet, damit sich das Shop-Floor-Personal nicht zu nahekommt. Zusätzlich wurden dort Schichtmodelle angepasst und – wenn nötig – einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Schutzausrüstung ausgestattet. Grundlage für die Entscheidungen, wie der Schutz der Beschäftigten gewährleitstet werden kann, sind in vielen Unternehmen individuelle arbeitsplatzbezogene Gefährdungsbeurteilungen. Es ist wichtig, hier gemeinsam mit den Beschäftigten Lösungen zu entwickeln. Generell ist diese Krise auch eine Zeit, in der das Feld der Arbeitsorganisation neue Impulse erhält.
Physical Distancing in der Praxis I
Ein deutscher Autokonzern hat in seinen Fabriken und Büros zur Umsetzung der räumlichen und zeitlichen Distanzierung verschiedene Maßnahmen ergriffen. In den Fabriken, in denen rund 60 000 Beschäftigte tätig sind, hat man Fertigungsprozesse und Schichtmodelle so angepasst, dass persönliche Kontakte verringert werden. Mit Absperrungen und Markierungen werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zudem auf das Abstandhalten aufmerksam gemacht. Die rund 50 000 Büroangestellten des Unternehmens arbeiten nach Möglichkeit von zuhause aus; Geschäftsreisen finden nicht statt.
Bereichsübergreifend setzt der Konzern auf eine Maskenpflicht und sensibilisiert seine Beschäftigten für das Einhalten der Handhygiene und regelmäßige Selbsttests auf bestimmte Krankheitssymptome.
Das Beispiel ist Ergebnis einer Recherche von acatech und Fraunhofer IAO und wurde anonymisiert.
Inwiefern?
Nehmen Sie das Thema Telearbeit. Für viele Büroangestellte war das Home Office in den letzten Wochen die einzige Möglichkeit, weiter zu arbeiten – und von vielen Unternehmen erhalten wir nun die Rückmeldung: es funktioniert!
Das Home Office ist eine Form der Arbeitsorganisation, die ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung ermöglicht – das müssen Führungskräfte aber auch zulassen. In der Vergangenheit hat man das nicht immer getan. Die positiven Erfahrungen der letzten Wochen könnten einen Schub für das selbstbestimmte Arbeiten auslösen und bewirken, dass man den Menschen endlich mehr zutraut.
Dieses selbstbestimmte Arbeiten ist ja aktuell auch für Familienmütter und -väter so wichtig: Viele sind mit der Herausforderung konfrontiert, Kinderbetreuung und Arbeitsaufgaben unter einen Hut zu bringen.
Ja, und hier gilt es aus Sicht der Arbeitgeber, Kontrolle abzugeben und in die Selbstmanagementfähigkeiten der Beschäftigten zu vertrauen. Familienaufgaben sind wichtig – darauf müssen Arbeitgeber Rücksicht nehmen und eine gewisse Flexibilität ermöglichen.
Physical Distancing in der Praxis II
Ein großer deutscher Automobilzulieferer führt für seine Beschäftigten individuelle arbeitsplatzbezogene Gefährdungsbeurteilungen durch. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden wird erörtert, wie der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz am besten gewährleistet werden kann – sei es durch eine veränderte Arbeitsorganisation, Schutzausrüstung oder Abstandstechnologien. Bei Fragen und Problemen können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an eine eigens eingerichtete Hotline wenden.
Um die Knappheit von Schutzausrüstungen zu verhindern, hat das Unternehmen Kapazitäten für die Produktion dieser Ausrüstungen aufgebaut.
Das Beispiel ist Ergebnis einer Recherche von acatech und Fraunhofer IAO und wurde anonymisiert.
Welche Auswirkungen wird die Krise in Bezug auf die Arbeitswelt noch haben?
Die Corona-Krise wird die Art des Arbeitens nachhaltig verändern. Viele haben nicht nur Vorbehalte gegenüber dem Home Office, sondern auch gegenüber Videokonferenzen und anderen Möglichkeiten der Kommunikation abgebaut. Viele werden sich überlegen, welche Reisen wirklich nötig sind, ob wir also nicht auch nach der Krise die Dienstreisen reduzieren auf die Termine, bei denen das Onlinemeeting keine Alternative ist. Das spart Zeit, Geld und ist ökologisch sinnvoll.
All die gerade genannten Beispiele haben etwas gemein: ohne digitale Technologien sind sie nicht möglich.
Richtig. Und deshalb ist schon jetzt die Erkenntnis da: der Ausbau digitaler Infrastruktur ist enorm wichtig, wir müssen hier dringend weiter vorankommen. Digitale Technologien haben uns ja nicht nur das Arbeiten ermöglicht, sondern auch – trotz Physical Distancing – unsere sozialen Beziehungen aufrecht zu erhalten. Wir merken, dass Unternehmen, Schulen oder auch Behörden, die in der Vergangenheit verstärkt in die Digitalisierung investiert haben, in der Krise widerstandsfähiger, also resilienter, sind. Daraus müssen wir lernen.