Gute Kommunikation in der Krise. Ein Beitrag von Ortwin Renn
München/Berlin, 15. Mai 2020
In einer schweren Krise wie der jetzigen Corona-Pandemie, ist es nicht nur erforderlich, dass die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Virologie und der Epidemiologie für die Entwicklung und Begründung von politischen Maßnahmen herangezogen werden. Ebenso essenziell ist die Berücksichtigung der empirisch abgesicherten und evidenzbasierten Erkenntnisse der Verhaltens- und empirischen Kommunikationswissenschaften.
Die Bewältigung der Corona-Krise hängt entscheidend davon ab, dass Politik, politiknahe Institutionen, aber auch Wissenschaft und Wirtschaft eine adäquate Form der Kommunikation wählen. Zentral sind im Ergebnis eine für alle deutliche Größenordnung der Gefahr, eine hohe Bereitschaft (Compliance), sich und andere zu schützen sowie Zutrauen in die Problemlösungskompetenz der zentralen Akteure in Deutschland und Europa. Auf dieser Basis ermöglicht die gesellschaftliche Kommunikation schrittweise eine wachsame Normalisierung und schließlich eine wachsame Normalität.
Die folgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, die Erkenntnisse aus den Verhaltens- und Kommunikationswissenschaften in kondensierter Form Revue passieren zu lassen, um daraus wichtige Lehren und Rückschlüsse für die Gestaltung der Krisenkommunikation in einer resilienten Gesellschaft zu ziehen.
Wichtige Erkenntnisse aus der Wahrnehmungs- und Verhaltensforschung
Was sind die jetzt relevanten zentralen, auf wissenschaftlicher Evidenz basierenden Erkenntnisse aus der Wahrnehmungs- und Verhaltensforschung?
(1) In Krisensituationen, selbst in extremen Bedrohungssituationen, beobachtet man selten Panik. Die Reaktion auf lebensbedrohende Ereignisse ist eher von anthropologischen und sozio-kulturellen Routinen bestimmt. Die gebetsmühlenartige Versicherung, dass Panik nicht angebracht sei, ist deshalb kontraproduktiv. Gerade dadurch kann Panik erst ausgelöst oder verstärkt werden.
(2) Auch wenn es grob vereinfachend ist, die heterogenen Verhaltensweisen von Menschen in generische Reaktionstypen einzuteilen, so hat es sich in der Krisenforschung bewährt, die klassischen drei (anthropologisch vorgegebenen) Reaktionsformen für unterschiedliche Reaktionen auf Bedrohungslagen zu wählen:
- Totstell-Muster
Mir wird schon nichts passieren.
Ich falle unter den vielen Menschen ohnehin nicht auf.
Ich mache weiter mit meinen gewohnten Routinen. - Flucht-Muster
Ich muss mich von allem fernhalten, was mich bedroht.
Lieber mehr Vorsicht als hinterher den Schaden zu haben.
Im Zweifel bleibe ich lieber zu Hause, als etwa neue Lebensmittel einzukaufen. - Kampf-Muster
Ich muss aktiv gegen das aggressive Virus handeln.
Ich fokussiere auf Ersatzobjekte: vermeintliche Sündenböcke (etwa Chinesen) oder Personen, die die Auflagen nicht ernst genug oder zu ernst nehmen.
Es ist wichtig, sich bei der aktuellen Kommunikation zur Corona-Pandemie an die allgemeine Öffentlichkeit immer bewusst zu machen, dass man stets mit Vertreterinnen und Vertreter aller drei Muster (zum Teil sogar in einer Person) parallel kommuniziert. Informationen, die für das eine Muster passend sind, sind für die anderen beiden Muster mitunter geradezu kontraproduktiv.
(3) Die Wahrnehmungsforschung hat sehr viele so genannte Heuristiken (intuitive Schließverfahren) experimentell aber auch im Alltagsleben nachweisen können. Diese Heuristiken können einerseits zur Über-, andererseits zur Unterschätzung von Risiken führen. Dazu einige Beispiele:
- Risiken werden überschätzt, wenn man höchst unsicher oder verunsichert über die Folgen und Implikationen ist und/oder wenn die Folgen der Risiken in besonders drastischer Weise vor Augen geführt werden (etwa Bilder von überfüllten Krankenhäusern oder LKW-Kolonnen beladen mit Särgen).
- Dagegen fließt die statistische Wahrscheinlichkeit, von einer solchen Bedrohung selbst betroffen zu sein, häufig zu wenig in die eigene Urteilsbildung ein.
- Exponentiell wachsende Bedrohungen werden meist unterschätzt – besonders stark bei Personen mit Vorliebe für das Muster Totstellen.
- Dazu treten Bestätigungstendenzen (Confirmation Biases), nach denen Menschen eher dazu neigen, den Quellen zu glauben, die das wiedergeben, was sie ohnehin schon als richtig oder als gut angenommen haben.
Von daher ist es nicht einfach, durch Kommunikation Verhaltensänderungen auszulösen, weil nur die Informationen übernommen, gespeichert und als für einen selbst relevant eingestuft werden, die den eigenen Urteilen oder auch Vorurteilen entsprechen.
(4) Ein zentraler Moderator für die Wirksamkeit von Krisenkommunikation ist das Vertrauensverhältnis zwischen den und zu den Kommunikatoren. Informationen über eine Krise wie die aktuelle Pandemie sollten also möglichst in der Sache eindeutig, wissenschaftlich validiert und ohne weitere parteipolitische oder interessengebundene Hintergedanken formuliert sein, um als vertrauensvoll eingestuft zu werden. Dies gilt vor allem für die Vermittlung von Unsicherheiten. Diese deutlich anzusprechen stärkt den Eindruck von Kompetenz. Allerdings führt wahrgenommene Unsicherheit zu mehr Angst und teilweise auch zu überzogenen Reaktionen und Untergangsstimmungen. Zur Wahrung der Glaubwürdigkeit und zur Unterstützung von verhältnismäßigen Reaktionen ist es besonders wichtig, die verbleibenden Unsicherheiten immer wieder so genau wie möglich zu charakterisieren (warum das noch nicht bekannt ist oder sein kann) und gleichzeitig deutlich zu machen, wie die Unsicherheiten in Zukunft weiter reduziert werden können.
Schlussfolgerungen für eine gelingende Krisenkommunikation
In Krisenzeiten erwarten die Menschen schnelle, kompetente, aktuelle und verlässliche Informationen. Deshalb ist es unerlässlich, dass die Kommunikation zentral koordiniert und organisiert wird. Die Botschaften müssen konsistent, kohärent, leicht nachvollziehbar und ohne weitschweifende Erklärungen erfolgen. Auch im Zeitverlauf muss eine klare Kommunikationslinie erkennbar sein. Natürlich ist es wichtig, in der Kommunikation deutlich zu machen, dass bei jeder Entscheidung alle Argumente abgewogen wurden und es eine einzige Patentlösung nicht gibt. Auch Zielkonflikte können und sollten offen angesprochen werden. Aber an der Geltungskraft der Entscheidung darf kein Zweifel bestehen.
Wir brauchen Vielfalt in der Analyse und Pluralität in der Diskussion um politische Implikationen. Ebenso dringend brauchen wir indes eine klar fokussierte Deutungshoheit der Politik bei der Gestaltung von Maßnahmen und vor allem klare, für alle nachvollziehbare und handhabbare Verhaltensnormen. Organisatorisch ist es sinnvoll, dass es eine zentrale Kommunikationsgruppe im Rahmen des gemeinsamen Krisenmanagements gibt, die alle Informationen aufnimmt, auf Konsistenz und Kohärenz überprüft (Filterfunktion). Viele Fachleute der Kommunikationswissenschaften raten zudem dazu, Kommunikation mit der Öffentlichkeit in die Hand einiger weniger Personen zu legen, so dass die Botschaften über die gesamte Zeit einer Krise auch immer mit einem bestimmten Gesicht verbunden bleiben.
Bei der Gestaltung der Kommunikation ist auf folgende Punkte besonders zu achten:
(1) Kommunikation muss alle drei Verhaltensmuster (Totstellen, Flucht, Kampf) parallel ansprechen.
- Diejenigen, die zum Totstellmuster, also eher zur Verharmlosung des Risikos neigen, kann man am besten dadurch erreichen, dass man (i) entweder an ihren Altruismus appelliert, dass sie damit auch andere schützen, oder aber deutlich macht, (ii) dass auch sie in Zukunft betroffen sein können, wenn das exponentielle Wachstum anhält.
- Diejenigen, die zum Fluchtmuster neigen, müssen in ihrem Verhalten bestärkt werden. Gleichzeitig ist es wichtig zu verdeutlichen, dass eine zu starke Abkapselung im eigenen Heim andere Risiken verstärkt, wie etwa die Zunahme häuslicher Gewalt, die Dehydrierung, Mangelernährung, Bewegungsmangel oder der Verlust von sozialen Kontakten. Wichtig ist es, dass hier zu Nachbarschaftshilfe, aber auch der Zugang zu IT-basierten Kommunikationskanälen an diese Gruppe ermöglicht und dazu ermutigt wird.
- Besonders schwierig ist die Kommunikation mit Menschen, die zum Kampfmuster neigen. Sie benötigen Ersatzobjekte oder Ersatzhandlungen, um ihren Tatendrang und zum Teil ihre Aggressionen auszuleben. Hier kann man versuchen, konstruktive und zur Krisenbewältigung sinnhafte Handlungen zu initiieren, etwa freiwillige Einkaufsdienste, Herstellung von einfachen Atemmasken, IT-Beratungen für darin wenig Geübte oder logistische Hilfestellungen.
Alle drei Muster gezielt anzusprechen, lässt sich nur schwer in eine allgemeine flächendeckende Krisenkommunikation einbinden. Vielmehr können dafür dezentrale Hotlines durch Kommunen und freiwillige Dienste eingerichtet oder ausgebaut werden, deren Personal für diese Fragestellungen kurzfristig geschult werden muss.
(2) Neben den Inhalten (eindeutig, ehrlich, verständlich, kohärent) kommt es auf die Semantik an: Kommunikation sollte Angst auslösende Begriffe möglichst vermeiden und die Einhaltung von Regeln (Compliance) weniger durch Negativbeispiele (Übertretungen) als vielmehr durch Positivbeispiele („85 Prozent halten sich an die Regeln: Warum dann nicht auch Du?“) illustrieren. Worte wie „Panik“, „Hysterie“ oder „Irrationalität“ sollten vermieden werden. Auch vor Bezeichnungen wie „Jahrhundertkatastrophe“, „Mega-Desaster“ oder „existentielle Krise“ sollte man sich hüten: Untergangsszenarien lähmen und führen zum Fatalismus, nicht zu höherer Bereitschaft, sich und andere zu schützen. Krise oder Pandemie reichen zur Charakterisierung der jetzigen Lage durchaus aus. Gleiches gilt für andere emotional hoch besetzte, aber unpräzise Ausdrücke: Nicht „soziale Distanzierung“, sondern „räumliche Distanzierung“ schützt vor Ansteckung (in der Krise müssen wir sozial zusammenrücken).
(3) Eine zuversichtliche Perspektive sollten wir auch bei der Kommunikation über die Zukunftsaussichten gewinnen. Grundsätzlich geht es um die Einsicht, dass die Rückkehr zur Normalität in kleinen Schritten und in jeweiliger Abwägung der Risiken für Gesundheit, Wirtschaft und gesellschaftliches Leben erfolgen wird („Rückkehr zu wachsamer Normalität“). Aber auch bei längerer Dauer der Corona-Pandemie – bis zur flächendeckenden Verfügbarkeit eines Impfstoffs – können wir darauf hinwirken, dass die Widerstandskraft und kreative Lösungskapazität der verschiedenen Institutionen und Organisationen in Deutschland ausreichen, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden. Wir können lernen, mit dem Risiko Corona verantwortlich umzugehen, also mit der Ansteckungsgefahr zu leben, uns zu so gut wie möglich zu schützen und eine zweite Pandemiewelle zu vermeiden. Diese innovativen Ideen dienen einerseits der Überwindung der Krise und andererseits der Stärkung der Resilienz und Nachhaltigkeit bei künftigen Bedrohungen. Natürlich sind auch Rückschläge und wirtschaftliche Einbußen zu erwarten, aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass wir alle gemeinsam die Kapazität haben, mit dieser Krise umzugehen, selbst wenn sie noch länger andauern sollte. Gleichzeitig liegen in der erfolgreichen Krisenbewältigung auch Chancen: etwa zur stärkeren Ausrichtung der wirtschaftlichen Leistungen auf nachhaltige Produktion, Produkte und Dienstleistungen, sowie zum Aufbau von resilienten Infrastrukturen als Vorsorge gegen künftige Bedrohungen.
(4) Verschiedene Gruppen in der Gesellschaft versuchen aus der Krise politischen Gewinn zu schlagen. In Deutschland ist dies bei den staatstragenden politischen Parteien bislang kaum der Fall. Das hat auch dazu beigetragen, dass insgesamt das Vertrauen in die politische Elite in Deutschland im Verlauf der Krise signifikant angestiegen ist.
Zwar hat der demokratische Staat nicht die durchschlagenden Eingriffsmöglichkeiten auf das individuelle Verhalten wie die autoritären Regime, etwa in China, aber gerade demokratische und marktwirtschaftliche Systeme im Verbund können wesentlich flexibler, kreativer und auch effizienter gegen Bedrohungen vorgehen als autokratische Systeme. In der Pluralität und Vielfältigkeit liegt die Stärke Europas. Sie können helfen, Lösungen zu entwickeln, die weit über die Krise hinaus neue wichtige Impulse für Wirtschaft und Gesellschaft, etwa in Richtung Nachhaltigkeit, setzen.
Dazu gehört auch, dass innerhalb der Kommunikation der soziale Aspekt der Marktwirtschaft besonders betont wird, also die Solidarität mit den Schwachen und Benachteiligten. Es gilt ebenso, hohe Anerkennung für diejenigen zum Ausdruck zu bringen, die besondere Leistungsbereitschaft und Aufopferungsbereitschaft in der Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens und der kritischen Infrastruktur gezeigt haben, sowie Solidarität mit den Personen aufzubringen, die durch die Krise in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind. Die Verbindung von marktwirtschaftlicher Flexibilität und Effizienz sowie von politischer und gesellschaftlicher Solidarität und Empathie ist für die Bewältigung der Krise essenziell. Das muss sich auch in einer Krisenkommunikation widerspiegeln.
Im Rahmen der Krisenkommunikation geht es also nicht allein darum, die neuesten Erkenntnisse aus der virologischen Forschung, der Epidemiologie und der Statistik an die Gesellschaft zu vermitteln, sondern auch deutlich und klar die Implikationen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft herauszustellen. Dabei stehen zum einen die Zuversicht in die Bewältigungskapazität unseres freiheitlich demokratischen, föderalen Systems im Vordergrund, zum anderen eine weltoffene und solidarische Kooperation mit allen Betroffenen im Inland wie im Ausland. Krisenkommunikation hat neben der täglichen Bewältigung der Krisenerscheinungen die vordringliche Aufgabe, die systemischen Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Wirtschaft, Politik und individuellem Wohlergehen immer als ein Ganzes vor Augen zu haben und bei allen Kommunikationsanstrengungen adäquat zu berücksichtigen.
Ortwin Renn ist Mitglied des acatech Präsidiums. Der Soziologe und Risikoforscher ist wissenschaftlicher Direktor am IASS Potsdam. Bei acatech leitet er unter anderem die Arbeitsgruppe zum „TechnikRadar“, das Einstellungen der Deutschen gegenüber Technologien erhebt – die neue Ausgabe erscheint im Herbst. Auf europäischer Ebene legte er jüngst den Report „Making Sense of Science for Policy unter Conditions of Complexity and Uncertainity“ vor.