Warum Fachleute und Laien Risiken häufig ganz unterschiedlich bewerten
München, 22. Februar 2024
Im Falle von technologischen Risiken, Naturkatastrophen oder auch bei einer Pandemie kommt es vor, dass Fachleute und Laien Risiken vollkommen unterschiedlich bewerten. Die Folge ist nicht selten, dass Bürgerinnen und Bürger sich anders verhalten als Fachleute es empfehlen. Warum die Meinungen hier oft auseinander gehen und wie man die Kluft überwinden könnte, erklärte acatech Mitglied Ralph Hertwig am 20. Februar bei acatech am Dienstag, das zusammen mit vhs.wissen live mit mehr als 600 Zuschauerinnen und Zuschauern stattfand.
In seiner Begrüßung ging acatech Präsident Jan Wörner auf die verschiedenen Risiken ein, die Menschen ganz selbstverständlich täglich eingehen – wenn sie am Straßenverkehr teilnehmen, mit dem Zug fahren oder Tätigkeiten im Haushalt nachgehen. Es sei tatsächlich wahrscheinlicher im Haushalt tödlich zu verunglücken (zum Beispiel bei einem Sturz von einer Leiter), als bei einem Flugzeugabsturz. Dennoch fürchten sich die meisten Menschen mehr vor dem Fliegen als vorm Klettern auf eine Leiter.
Zum Vortrag (Video) von Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität (ARC) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Warum Fachleute und Laien Risiken häufig ganz unterschiedlich bewerten
Dauer: 1 Stunde 08 Minuten und 43 Sekunden
Wie unbekümmert Menschen mit realen Risiken umgehen, beschrieb acatech Mitglied Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität (ARC) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, einleitend am Beispiel des Vulkans Vesuv. In dessen unmittelbarer Umgebung leben im Großraum Neapel rund drei Millionen Menschen und sind dabei ständig in großer Gefahr: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem großen Ausbruch kommt, von Jahr zu Jahr höher ein. Warnungen der italienischen Regierung sowie Bemühungen der Behörden, die Bevölkerung umzusiedeln, zeigten bislang keine Wirkung, so Ralph Hertwig.
Warum leben und arbeiten Menschen am Fuße des Vesuvs, obwohl er eine tickende Zeitbombe ist? Was sind die Ursachen für einen derart großen Unterschied in der Risikobewertung zwischen wissenschaftlichen Fachleuten und der dort lebenden Bevölkerung? Ralph Hertwig stellte vier mögliche Hypothesen vor, warum hier die Wahrnehmungen hier häufig auseinandergehen:
- Einfluss von Desinformation und mangelndes Vertrauen zu Expertinnen und Experten, staatlichen Institutionen und Qualitätsmedien.
- Soziopolitische Faktoren wie gesellschaftliche Ungleichheit
- Zugrundeliegenden Dimensionen unserer Risikowahrnehmung
- Art und Weise, wie wir über Risiken lernen
Einfluss von Desinformation
Das Vertrauen in Expertinnen und Experten nehme auch deshalb ab, da die Menge der Falschinformationen, die uns tagtäglich erreichen, immer größer werde, so Ralph Hertwig. Entsprechend sei die Skepsis gegenüber medial zugänglichen Informationen größer geworden, man vertraue stattdessen stärker den Menschen im eigenen Umfeld. So zeigt beispielsweise das Wissenschaftsbarometer 2023, dass nur noch 56 Prozent der deutschen Bevölkerung der Wissenschaft vertrauen, während es im April 2020 noch 73 Prozent waren.
Gesellschaftliche Ungleichheit und die Wahrnehmung von Risiken
Im Zusammenhang mit soziopolitischen Faktoren, wie beispielsweise gesellschaftlicher Ungleichheit, sprach Ralph Hertwig über den sogenannten White Male Effekt, den Effekt des weißen Mannes. Dieser besagt, dass Männer eine größere Bereitschaft haben, Risiken einzugehen. Zusätzlich nehmen Männer Risiken offenbar anders wahr – sei es Atomkraft, Schusswaffen, Autofahren, Erkrankungen. Im Ergebnis fühlten sich weiße Männer weniger bedroht als Frauen oder Schwarze Männer, so Ralph Hertwig. Eine Erklärung: Während weiße Männer an den Hebeln der Macht sitzen und über den Einsatz von Technologien oder Ressourcen entscheiden, fühlen sich Frauen und ethnische Minderheiten weniger mächtig und haben deshalb eine andere Wahrnehmung von Risiken. Was aber bei allen wieder gleich ist: Die Bereitschaft, Risiken einzugehen, nimmt mit zunehmendem Alter ab.
Dimensionen unserer Risikowahrnehmung
Während ein technisches Risiko als ein Produkt der Wahrscheinlichkeit eines Schadens und dem Ausmaß eines Schadens verstanden wird, kennen psychologische Risikodimensionen katastrophale, unbekannte, chronische und bekannte Risiken. Dabei bewerte die Bevölkerung unbekannte und katastrophale Risiken (wie zum Beispiel Atomkraftwerke, Gentechnik oder elektromagnetische Felder) als große Risiken, so Ralph Hertwig. Entsprechend wünschten sich Bürgerinnen und Bürger hier Schutz, etwa durch staatliche Regulierung. Die chronischen und bekannten Risiken (wie zum Beispiel Rauchen, Motorradfahren und Schwimmbecken) stufen sie als eher geringe Risiken ein.
Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es?
Ralph Hertwig erläuterte schließlich verschiedene Möglichkeiten, wie auch Laien (und die sind wir alle in den meisten Bereichen) zu einer passgenaueren Risikobewertung kommen können. Dazu gehöre, die Häufigkeit und den Einfluss von Desinformation zu reduzieren. Ralph Hertwig zeichnete eine positive Zukunft der Risikokommunikation, die nicht nur auf Texten basiert, sondern grafisch überzeugt und an den Erfahrungen der Menschen anknüpft. Faktenboxen in grafisch ansprechender Form können beispielsweise die beste verfügbare Evidenz zu potenziellem Nutzen und Schaden verschiedener medizinischer Maßnahmen bzw. Gesundheitsthemen präsentieren.
Welche Fragen bewegten das Publikum?
In der abschließenden Diskussion mit dem Publikum ging es unter anderem um die Corona-Pandemie: Wurde die Risikowahrnehmung durch mediale Darstellungen übermäßig stark beeinflusst, wie das im Fall der Schweinegrippe ein paar Jahre zuvor bereits der Fall war? Zur Risikowahrnehmung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurde angemerkt, dass Eltern – aus evolutionären Gründen – risikosensibler sein könnten. Auch stärker religiöse Menschen könnten in bestimmten Bereichen, die das Menschenbild und Werte betreffen (z.B. Organverpflanzungen), zu anderen Bewertungen von Risiken kommen als Nicht-Religiöse. Zudem regte man eine stärkere Untersuchung kultureller Faktoren an, die möglicherweise die unterschiedliche Wahrnehmung der Risiken von Kernkraftwerken bedingen. Zum Abschluss ging Ralph Hertwig noch auf ein aktuelles Beispiel ein: Bei der Debatte rund um die Risiken Künstlicher Intelligenz müsse darauf geachtet werden, nach Anwendungsfeldern zu differenzieren. Eine pauschale Verurteilung der KI als gefährliche Technologie sei nicht sinnvoll.
Weiterführende Informationen
Harding-Zentrum für Risikokompetenz: Faktenboxen
News: Das Risikoparadox – vermeintliche Gefahren und tatsächliche Bedrohungen