Weltfrauentag: acatech forciert Berücksichtigung der Geschlechterdimension in der Beratung
München, 8. März 2021
Gute wissenschaftliche Praxis schließt die Berücksichtigung von Geschlecht und Vielfältigkeit bei Forschungsvorhaben ein. Entsprechend räumt acatech der Geschlechterdimension mehr Raum in der gemeinwohlorientierten Beratung von Politik und Gesellschaft ein. Diesen Grundsatz erklärt die Akademie in ihrem heute zum Weltfrauentag erschienenen Bericht und Aktionsplan zur Gleichstellung in der Akademie. Martina Schraudner, Vorstandsmitglied von acatech und Verantwortliche für die Gleichstellung in der Akademie und Geschäftsstelle, erläutert anlässlich des Weltfrauentags am 8. März, warum Perspektivenvielfalt für die Gestaltung neuer Technologien unabdingbar ist.
In ihrem heute erschienenen „Bericht und Aktionsplan zur Gleichstellung in der Akademie“ konstatiert acatech Fortschritte, aber auch Handlungsbedarf, Ungleichheiten in den Technikwissenschaften und den eigenen Gremien schnellstmöglich abzubauen und die Potenziale von gemischtgeschlechtlichen Gremien weiterhin für eine kontinuierlich exzellente Arbeit und Beratung zu nutzen. Wie wichtig dies auch in der wissenschaftsbasierten Arbeit ist, unterstreicht Vorstandsmitglied Martina Schraudner: „Gleichstellung in der Wissenschaft bedeutet nicht nur mehr Frauen auf allen Ebenen. Die Belange von Frauen müssen gemäß dem DFG-Kodex zu Guter Wissenschaftlicher Praxis in der Methodik und bei der Auswertung von Forschungsvorhaben berücksichtigt werden“, erklärt Martina Schraudner.
Dass Wissenschaft die Geschlechterdimension berücksichtigt, sei auf den ersten Blick selbstverständlich. Sehe man genauer hin, erkenne man Lücken, die auch die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften in ihrer Arbeit schließen wird: „Die Geschäftsstelle fördert gezielt die Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen und Expertinnen in der Akademie im Allgemeinen und in den Arbeitskreisen und Projektgruppen im Speziellen“, erläutert Martina Schraudner. „Damit bringen wir zusätzliche Perspektiven in die Diskussionen wichtiger Zukunftsfragen und der inklusiven und werteorientierten Gestaltung von Technologie ein.“ Diese Perspektivenvielfalt fördere das Interesse an Innovationen und deren Akzeptanz. Und sie ermögliche eine kontinuierlich exzellente Beratung, die tatsächlich am Gemeinwohl orientiert ist – die zentrale Mission von acatech.
Perspektivenvielfalt in der Bearbeitung technikwissenschaftlicher Zukunftsfragen: Dabei gehen die Arbeitsgruppen der von ihr gemeinsam mit acatech Vizepräsident Jürgen Gausemeier verantworteten acatech HORIZONTE mit gutem Beispiel voran. Die HORIZONTE Projektgruppen fragen: Hat das jeweilige Thema eine Geschlechterdimension? Wenn ja, wurde diese bisher ausreichend von Wissenschaft und Wirtschaft berücksichtigt? Welche Handlungsfelder ergeben sich daraus?
Besonders deutlich werde nach den Worten von Martina Schraudner die im Sommer erscheinende Ausgabe „Transformation der Mobilität“ zeigen, wie wichtig Perspektivenvielfalt für eine erfolgreiche Gestaltung von Innovation ist. Denn im breiten Innovationsfeld „Mobilität“ wirke sich besonders empfindlich aus, wenn die Perspektiven von Frauen unzureichend einbezogen werden. Angefangen bei fehlenden Daten zum Mobilitätsverhalten bis zur mangelnden Berücksichtigung bei der Unfallforschung – der Einbezug von Frauen ist zentral für eine gelingende Wende hin zu einer menschen- und umweltfreundlicheren Mobilität.
Ein Zwischenfazit der HORIZONTE Arbeitsgruppe: „Tatsächlich ist Verkehrsplanung nicht geschlechter-neutral, sondern spiegelt oft den männlichen Blick auf die Welt wider. Das hängt damit zusammen, dass Städte und Verkehr in der Vergangenheit hauptsächlich von Männern geplant wurden. Das Ergebnis: Städte und Infrastrukturen, die für das Auto optimiert sind und oft nicht den Bedürfnissen von Frauen entsprechen. Denn während Männer weltweit traditionell mit dem Auto geradlinig zu ihrer Arbeitsstelle und wieder zurückfahren, sind Frauen öfters zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und nutzen öffentliche Verkehrsmittel. Sie legen im Laufe des Tages mehrere kürzere Wege zurück, um Einkauf, Kinderbetreuung und Job zu verbinden. Schlechte Busverbindungen, fehlende Aufzüge oder Radwege und auch die Gefahr von sexualisierter Gewalt in der U-Bahn oder in dunklen Straßen und Parks stellen Frauen auf der ganzen Welt nicht nur vor logistische Probleme. Sobald sich übrigens Raum- und Verkehrsplanung mehr an den Bedürfnissen von Frauen ausrichten, profitieren auch andere Gruppen wie Senioren oder Menschen mit körperlicher Einschränkung. Es ist also an der Zeit, sich über unterschiedliche Bedürfnisse und Mobilitätsverhalten Gedanken zu machen und diese routinemäßig mitzudenken.“
Berücksichtigung der Geschlechterdimension führt generell zu mehr Inklusion
Christine Weis-Hiller, Leiterin des Geschäftsbereichs 2 im Mobilitätsreferat der StadtMünchen Projektgruppenmitglied der acatech HORIZONTE, ist überzeugt, dass die Berücksichtigung der Geschlechterdimension erst der Anfang einer nachhaltigen Transformation nicht nur in der Mobilität ist:
Mit der zunehmenden Veränderung und Angleichung der gelebten sozialen und kulturellen Rollen von Frauen und Männern, wird sich die Berücksichtigung der „Geschlechterdimension“ zunehmend in eine gleichberechtigte Berücksichtigung von „unterschiedlichen Lebenstypologien“ in vielen Bereichen unserer vielfältigen und freiheitlichen Gesellschaft transformieren.
Das vollständige Statement von Christina Weis-Hiller
Aufgrund von traditionellen Vorstellungen und teilweise immer noch gelebten sozialen und kulturellen „Geschlechterrollen“ in unserer Gesellschaft, sind Frauen und Männer unterschiedlichen Lebensbedingungen und Chancen ausgesetzt und von gesellschaftlichen Prozessen und deren Auswirkungen unterschiedlich betroffen. Dies wirkt sich auch auf die Möglichkeiten und Chancen, in unserer Gesellschaft entsprechend mobil zu sein, aus. Denn basierend auf den unterschiedlichen, geschlechtsbezogenen gelebten Rollen und ausgeübten Aufgaben, sind auch die Mobilitätsbedürfnisse von Männern und Frauen sehr unterschiedlich.
Lange Zeit wurden Berufe wie die des „Verkehrsplaners“ traditionell (fast) nur von Männern ausgeübt. Deshalb wurden sowohl in der praktischen Verkehrsplanung als auch in der Wissenschaft und Forschung überwiegend nur die Mobilitätsbedürfnisse der gelebten sozialen und kulturellen “männlichen Geschlechterrolle“ wahrgenommen, erforscht und in Planungsvorschriften und -grundsätzen verankert. Diese haben jahrzehntelang und nachhaltig die Planungskultur und damit die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft mobil sind, geprägt.
Mit dem Engagement von Frauen zur Berücksichtigung ihrer rollenbezogenen Bedürfnisse in der Verkehrsplanung und ihrem Einzug in dieses Berufsfeld, konnte zunehmend auch die Wahrnehmung und Bewusstseinswerdung der unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse von Frauen und Männern, aber auch von Kindern, älteren und/oder in ihrer Mobilitätsautonomie eingeschränkten Personen gesteigert und in ihrem Stellenwert gestärkt werden.
Zunehmend wurde nicht nur die Bewältigung des Weges vom Wohnort zum Arbeitsort und zurück und der Transport von Waren und Gütern in den Fokus der Verkehrsplanung gestellt, sondern auch die Berücksichtigung der Wege im unmittelbaren Wohnumfeld, wie der Weg zu den Kindertagesstätten, Schulen, aber auch die Berücksichtigung von Wegeketten von berufstätigen Frauen, die auf dem Weg zur und von der Arbeit noch ihre Kinder zur/von der Kindertagesstätte / Schule bringen/abholen müssen. Zudem wurde auch wahrgenommen, dass für diese Wege auch andere Verkehrsmittel als das Kfz, nämlich das zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad und ÖPNV fahren, geeigneter erschienen, sofern diese Möglichkeiten entsprechend zuverlässig und sicher zur Verfügung standen.
Je besser die unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigt und „alternativen“ Mobilitätsmöglichkeiten ausgebaut und zuverlässiger zur Verfügung gestellt wurden, desto mehr eröffneten sich auch für alle weiteren Gesellschaftsgruppen vielfältigere und flexiblere Mobilitätsmöglichkeiten. Diese Potenziale spielen gerade heute, bei der Frage der Bewältigung der Mobilitätsbedürfnisse in den schnell wachsenden und zunehmend dichter werdenden Metropolen, aber auch bei der Frage der dringend notwendigen Platzgewinnung in Städten für Maßnahmen zur Klimaprävention (Durchgrünung von Städten zur Kühlung) und Bereitstellung von ausreichend Frei- und Erholungsflächen für die Bewohner*innen eine maßgebliche Rolle, weil sie eine wesentlich effizientere, platzsparende und umweltfreundlichere Abwicklung der Mobilität ermöglichen.
Daten als weiterer Schlüssel für eine Mobilität für alle
Michael Bültmann, Geschäftsführer HERE GmbH und Projektgruppenmitglied der acatech HORIZONTE, Ausgabe setzt auf Daten, um möglichst viele Perspektiven in der Gestaltung der Mobilität der Zukunft einzubeziehen:
Die Mobilität der Zukunft muss sich an den Bedürfnissen aller ausrichten, auch die individuelle Mobilität. Autonome Fahrsysteme, auch wenn wohl mehrheitlich nach wie vor von Männern entwickelt, müssen so flexibel konzipiert sein, dass sie die individuellen Vorlieben und Fahrstile aller Menschen widerspiegeln können. Diese können auch geschlechterspezifisch sein. Die intelligente Nutzung von Daten kann hier helfen. Historische Fahrzeugdaten geben Aufschluss über menschliches Fahrverhalten. Aus ihnen lassen sich unterschiedliche Fahrprofile für das automatisierte Fahren ableiten, die – egal ob Mann oder Frau – den individuellen Bedürfnissen und Verhaltensweisen beim Fahren gerecht werden. Daten können also geschlechtsneutral eine deutlich verbesserte bedarfsgerechte individuelle Mobilität ermöglichen.