Resilienz als wirtschafts- und innovationspolitisches Gestaltungsziel
München, 19. April 2021
Gegenwärtig ist noch offen, ob es uns als Gesellschaft gelingen wird, aus den Erfahrungen mit der SARS-CoV-2-Pandemie zu lernen und somit besser auf zukünftige Krisen vorbereitet zu sein. Expertinnen und Experten haben in einem heute erschienenen dreibändigen acatech IMPULS die Resilienz der Wirtschaft in den Blick genommen. Allgemein und vertieft an den Beispielen der Gesundheitsindustrien und des Fahrzeugbaus geben sie Entscheiderinnen und Entscheidern einen Wegweiser in die Hand, wie eine höhere Resilienz in Lieferketten und Wertschöpfungsnetzwerken erreicht werden kann, um auf Krisen aller Art besser vorbereitet zu sein.
In einer Welt, in der Krisen häufiger werden, muss Resilienz neben anderen großen Herausforderungen wie der Bewältigung des Klimawandels, dem Strukturwandel ganzer Branchen durch die Digitalisierung und der Frage nach technologischer Souveränität bei allen relevanten Vorhaben mitgedacht werden. Dabei darf der Blick nicht nur auf eine weitere Pandemie gerichtet sein; die nächsten Krisenereignisse können auch komplett anders gelagert sein.
Ausgehend von der aktuellen Pandemie entwickeln acatech Expertinnen und Experten daher in einem heute erschienenen Impulspapier allgemeine Wege zu mehr Resilienz gegenüber Krisenereignissen aller Art. Der acatech IMPULS besteht aus drei Bänden: Band I bietet einen Überblick über das Konzept Resilienz im Allgemeinen und über resilienzsteigernde Ansätze, die für alle Branchen gleichermaßen gültig sind. Band II vertieft diese Überlegungen für die Gesundheitsindustrien, also Pharmazie und Medizintechnik. Band III stellt Chancen und Herausforderungen für eine höhere Resilienz im Fahrzeugbau dar.
Band 1: Das Konzept der Resilienz mit Blick auf die deutsche Wirtschaft
Resilienz ist ein fortlaufender Prozess, kein einmaliger Kraftakt. Ihr Ziel ist nicht die vollständige Vermeidung negativer Auswirkungen einer Krise. Sie besteht in einer Vorbereitung auf Krisenereignisse, um während der Krise handlungsfähig zu bleiben und dann eine schnelle Erholung einleiten zu können. Das Ziel muss also ein verbesserter neuer Zustand sein und nicht die Rückkehr zum Status quo.
Die Hauptverantwortung für ihre Resilienz liegt bei den Unternehmen selbst und ist nicht nur in deren Eigeninteresse, sondern auch in deren Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Beschäftigten begründet. Der Staat kann und muss sie hierbei vor allem durch die Schaffung förderlicher Rahmenbedingungen unterstützen.
Technologische Souveränität darf dabei nicht als Autarkie verstanden werden. Im Gegenteil: Auch außereuropäische Akteure sollten aktiv für Vorhaben zu europäischen Spielregeln gewonnen werden. Debatten über ein gefördertes Aufwachsen international wettbewerbsfähiger Ökosysteme in technologischen Zukunftsfeldern sollten daher auf Resilienz durch eine Diversifizierung der globalen Anbieterlandschaft und Stärkung der eigenen Position auf dem Weltmarkt abzielen.
Der Aufbau europäischer Produktionskapazitäten am Markt vorbei, um eine Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen, ist nur in ausgewählten Bereichen der Daseinsvorsorge zielführend, da er mit deutlichen Mehrkosten verbunden ist. Strikte Resilienzvorgaben sollte der Staat daher nur dort machen, wo dies für seine Handlungsfähigkeit oder die Daseinsvorsorge der Bevölkerung in Krisensituationen unabdingbar ist.
Band 2: Resilienz in Pharmazie und Medizintechnik
An der Zuverlässigkeit der Gesundheitsversorgung auch in Krisenzeiten und damit leistungsfähigen Gesundheitsindustrien besteht ein hohes politisches und gesellschaftliches Interesse. Deshalb müssen auch die Absicherung und der Ausbau der Wertschöpfung in diesen zentralen Branchen und gerade bei neuen, hochinnovativen medizintechnischen Geräten und Therapieansätzen ein politisches Ziel sein.
Da sich im Gesundheitswesen Personal- und Produktionskapazitäten nicht schlagartig steigern lassen, wenn eine Krise eintritt, sind langfristig im System ausreichende Puffer sicherzustellen. Für noch zu definierende kritische Produkte sollten Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Umsetzungsoptionen für intelligente Güter- und Produktionsreserven erarbeiten.
Strenge Regularien bei Qualitätssicherung und Zertifizierung setzen der Flexibilität und Reaktionsfähigkeit der Gesundheitsindustrien in Krisenzeiten enge Grenzen. In der pragmatischen Zusammenarbeit von Unternehmen und Behörden während der Pandemie zeigten sich Spielräume, Verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, ohne die Sicherheit zu gefährden.
Bei einigen versorgungskritischen Medikamenten und Medizinprodukten bestehen jedoch problematische Abhängigkeiten von wenigen, meist asiatischen Herstellern. Diese machen Lieferketten schockanfällig und führen auch außerhalb von Krisen zu Lieferengpässen. Veränderte Anreiz- beziehungsweise Erstattungssysteme könnten hier für eine Diversifizierung der Lieferquellen sorgen und gegebenenfalls auch den Aufbau sich selbst tragender europäischer Produktionskapazitäten ermöglichen.
Ein zentraler Baustein zu mehr Resilienz ist zudem die innovative Nutzung von Gesundheitsdaten. Sie verbindet systemische Resilienzvorteile mit konkretem Patientennutzen und Wertschöpfungspotenzialen. Hier sollten zügig bessere Rahmenbedingungen und europäische Infrastrukturen wie Gaia-X verwirklicht werden, auch um eine Abhängigkeit von Anbietern aus anderen Wirtschaftsräumen zu vermeiden. Gerade im Gesundheitsbereich kommt einer hohen Cybersicherheit dabei eine entscheidende Rolle zu.
Band 3: Höhere Resilienz im Fahrzeugbau erreichen
Eine weitreichende resiliente Neugestaltung der Wertschöpfungsnetzwerke und Lieferketten der Fahrzeugindustrie setzt eine enge Kooperation und neue Kulturen des Informationsaustauschs zwischen den Marktteilnehmern untereinander und mit Wissenschaft und Politik voraus. Die Branche zeichnet sich dabei durch international weit verzweigte Wertschöpfungssysteme aus, weswegen hier die Steigerung von Transparenz in Lieferketten eine zentrale Voraussetzung für eine Erhöhung der Resilienz darstellt.
Eine Anpassung der sehr restriktiven Auslegungspraxis des europäischen Kartellrechts und definierte Ausnahmeregelungen für Krisensituationen könnten sowohl die Handlungsfähigkeit der Branche in akuten Krisen steigern als auch vorwettbewerbliche Kooperationen bei wichtigen Zukunftsprojekten erleichtern, die Wertschöpfungsnetzwerke langfristig resilient aufstellen.
Eine Diversifizierung der Lieferbasis ist bei kritischen Komponenten entscheidend für die Resilienz der deutschen Fahrzeugindustrie. Aktuell bestehen in der Mikroelektronik und bei Batterien große Abhängigkeiten von asiatischen Herstellern. Mittel- und langfristig können auch die Erforschung alternativer Materialien, die Substitution knapper Rohstoffe, die Implementierung von Circular Economy-Ansätzen sowie allgemein ein Ausbau vorhandener Schlüsseltechnologien in der Automobilelektronik zur Resilienzsteigerung der Wertschöpfung in Zukunftsfeldern der Mobilität beitragen.
Die politische Unterstützung des Aufbaus von Design-, Fertigungs- und – im Falle von Batterien – auch Recyclingfähigkeiten in Europa sollte aufrechterhalten und ausgebaut werden. Im engen Austausch mit der Industrie ist daher auf den Aufbau sich selbst tragender Ökosysteme hinzuwirken. Dies kann politisch im Rahmen von Reallaboren, IPCEIs oder Forschungsfabriken gefördert werden.
Aus strategischer Sicht ist für resiliente Geschäftsmodelle auch die Kontrolle über die Datenströme und Software im und rund um das Fahrzeug wichtig. Eine schnelle Umsetzung von Gaia-X und des Datenraums Mobilität ist daher entscheidend, damit diese zentralen Wertschöpfungspunkte in europäischer Hand bleiben. Der Aufbau eines unternehmensübergreifenden Datenraumes über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg wäre ein erheblicher Beitrag zur Resilienzsteigerung.