„Es geht um die Demokratie.“
Reinhard F. Hüttl über die Glaubwürdigkeit und Qualität
der Wissenschaft unter Quotendruck
Die enge Wechselbeziehung von Wissenschaft und Gesellschaft ist in jüngster Zeit immer wieder zum Thema geworden. Dabei ist es nicht nur die Wissenschaft, die die Gesellschaft beeinflusst. Ebenso groß und oft unterschätzt ist der Einfluss der Gesellschaft auf die Wissenschaft. acatech Vizepräsident Reinhard F. Hüttl, Vorstand des Deutschen Geoforschungszentrums in Potsdam und seit der Gründung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften in deren Präsidium, beschäftigt sich seit längerem mit diesem Thema – ein Grund auch, weshalb er sich für die Schaffung der Akademien-Arbeitsgruppen engagierte, die die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien (WÖM) untersuchten. Er macht sich Sorgen um die Qualität und Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Forschung.
Heidi Blattmann, ehemalige Leiterin der Wissenschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung im Gespräch mit acatech Vizepräsident Reinhard F. Hüttl (veröffentlicht am 26. Juni 2018). Beide haben in den Akademien-Projekten zum Verhältnis zu Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien mitgearbeitet.
Das Interview als PDF zum Download.
Heidi Blattmann: Herr Hüttl, Sie fürchten einen Verlust an Qualität und Glaubwürdigkeit der Wissenschaft, weil sich diese aus verschiedenen Gründen immer mehr am Zeitgeist orientiert. Als wesentliche Treiber sehen Sie da die Finanzierung durch Drittmittel und die gewachsene Dominanz der Social Media. Ein solches Mainstream-Denken wiederum, so Ihre Bedenken, schwächt die Innovationskraft und stellt vor allem eine Gefahr für den demokratischen Dialog dar. Sie plädieren daher für einen starken, hinterfragenden Journalismus im Wissenschaftsbereich als Gegengewicht. Worauf basieren diese Warnungen? Was läuft heute denn im Wissenschaftssystem schief?
Reinhard F. Hüttl: Es gibt zwei zentrale Entwicklungen, die zu diesem Unbehagen führen, zum einen in der Wissenschaft und zum anderen in den Medien. In der Wissenschaft haben wir uns vor einigen Jahrzehnten entschieden, die Verteilung der Mittel neu zu organisieren. Man einigte sich auf eine deutlich reduzierte Basisfinanzierung, der Rest läuft über Wettbewerb. Dies ist der heute so wichtige Drittmittelmarkt. Man bewirbt sich allein oder mit Verbündeten um öffentliche und teilweise auch um privatwirtschaftliche Gelder. Bei der an den Universitäten stark reduzierten Grundfinanzierung bedeutet dies, dass man vor allem dort forschungsaktiv sein wird, wo man sich im Wettbewerb durchsetzt. Auch wenn Wissenschaft grundsätzlich vom Wettbewerb der Ideen lebt, wird so doch die Forschungsfreiheit eingeschränkt, wenn für manche Themen keine oder nur geringe Mittel zur Verfügung stehen.
Wie sieht denn dieser Drittmittelmarkt konkret aus?
Die Drittmittel-Problematik betrifft in erster Linie die Grundlagenforschung, insbesondere die sogenannte Blue-Sky-Forschung. Letztere findet vor allem an den Universitäten statt und wird dort zu einem wesentlichen Teil durch die Drittmittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert.
In der Blue-Sky-Forschung kann man sich thematisch völlig frei bewerben. Man muss nur wirklich gut sein. Und man muss Gutachter finden, die das Forschungsgesuch auch richtig einschätzen können.
Diese Gutachter müssen ja sicherlich auch die Qualität beurteilen. Weshalb hat denn selbst der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft vor gravierenden Qualitätsproblemen in der Forschung gewarnt?
Es gibt bei DFG-Gesuchen zwar ein ausgeklügeltes demokratisches Bewertungssystem mit wirklich guten Experten. Der Nachteil ist jedoch, dass die Finanzierung beim nächsten Antrag plötzlich zu Ende sein kann. Eine Forschungskarriere wird so quasi von den Peers unterbrochen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen dann, wenn sie weiter grundlegend forschen wollen, ein anderes Thema aufgreifen – am besten wieder mit Drittmitteln
Meist führt ein solches Ende der DFG-Finanzierung aber dazu, dass man Geld außerhalb des Blue-Sky-Bereiches suchen muss. Dies bedeutet also eine Verlagerung weg von DFG-finanzierter Grundlagenforschung hin zu programmorientierter Forschung: Förderprogramme wie sie beispielsweise von der EU in den großen Forschungsrahmenprogrammen, in außeruniversitären Einrichtungen oder für Universitäten auch durch nationale oder regionale Forschungsprogramme von öffentlichen Geldgebern angeboten werden.
Über den Zugang zu programmorientierter Forschung entscheidet dann aber nicht mehr allein die wissenschaftliche Qualität. Der Drittmittelerfolg hängt dann auch davon ab, was quasi gerade „in Mode“, was „Mainstream“ ist und wofür es Geld gibt. Unter solchen Rahmenbedingungen stellt sich für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Frage, ob sie mit ihren Kernthemen etwas beitragen können – oder ob sie die Kompetenz und das Know-how von Anfang an breiter entwickeln sollten.
Dies begrenzt aber die Forschungsfreiheit. Und das nimmt Einfluss darauf, wie man seine Forschung gestaltet, wie man sein Institut aufbaut – schon allein aus Verantwortung gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Man ist geneigt, dem Geld hinterher zu laufen und sich und seine Forschung entsprechend zu „verkaufen“. Deshalb ist vielerorts die Öffentlichkeitsarbeit so wichtig geworden.
Das heißt, es gibt eine Abhängigkeit von der Drittmitteleinwerbung?
Natürlich – nicht immer und überall, aber doch zunehmend. Das Problem mahnt auch Peter Strohschneider als DFG-Präsident an: Zum Teil kommt es als Folge des Drittmittelgerangels zu Ergebnissen, die aus wissenschaftlicher Sicht qualitativ nicht mehr genügen. Es werden Daten publiziert, die nicht mehr reproduzierbar sind. Nicht ins Bild passende Beobachtungen fehlen oder die Bedeutung der Resultate wird übertrieben.
Die Einwerbung von Drittmitteln ist inzwischen ja auch aus anderen Gründen sehr wichtig. Wer viel einwirbt, publiziert auch viel und hat viele Doktoranden. Das geht Hand in Hand. Die drei Kriterien Drittmittel, Doktoranden und Publikationen sind heute daher die zentralen Reputationsparameter für eine Karriere. Über die sogenannte Leistungsorientierte Mittelvergabe werden sie noch mit zusätzlichen Mitteln belohnt. Es handelt sich zwar um vergleichsweise überschaubare Summen, aber es kommt doch zu einer weiteren Förderung jener mit guten Reputationsparametern.
Zudem ist bei den Drittmitteln eine ziemliche Hektik anzutreffen, vor allem bei kurzfristigen, also ein, zwei- oder dreijährigen Programmen. Man muss immer wieder neue Anträge schreiben. Bei der DFG geht jedoch nur etwa jeder dritte Antrag durch. Beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) liegt die Erfolgsquote, je nach Umständen, bei nur 10 Prozent. Und bei der EU sind es in bestimmten Programmen gar nur fünf oder sechs Prozent. Dies heißt, dass im Extremfall 95 Prozent der Anträge nicht gefördert werden. Damit ist auch ein riesiger Aufwand und in der Folge oft Frustration verbunden. Für diejenigen, die keine festen Anstellungen haben, kommt es zudem zur Aneinanderreihung von eher kurzfristigen Anstellungen. Das kann eine richtige Tretmühle werden.
Es ist sicher richtig, die öffentlichen Forschungsgelder nicht mit der Gießkanne zu verteilen, sondern einen adäquaten Teil im Wettbewerb zu vergeben. Ich frage mich jedoch, ob wir uns noch in der richtigen Balance befinden und ob nicht unerwünschte Effekte wie eben Mainstreamforschung und Verluste bei der Qualität damit einhergehen.
Wie sieht die Situation denn bei der programmorientierten Forschung aus?
Der Anteil der Drittmittel, der nicht durch die DFG, sondern im Rahmen von programmorientierter Forschung vergeben wird, ist wesentlich größer als die Gelder für Blue-Sky-Forschung. Auch in der programmorientierten Grundlagenforschung geht es um ergebnisoffene „fundamental research“. Diese ist aber eben programmatisch ausgerichtet, zum Beispiel auf das Thema Naturgefahren oder Erneuerbare Energien. Also weniger frei. Diese Forschung hat ihren zentralen Ursprung in der Umweltdiskussion bzw. in der Diskussion um die Grand Challenges, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund befand der Staat – zurecht: Wir können nicht nur forschen, was uns gefällt und wozu wir eine Idee entwickeln. Wir müssen auch Zusammenhänge erforschen, die aus gesellschaftspolitischer Sicht wichtig sind, zu denen wir wissenschaftlich bestmöglich abgesicherte Lösungen brauchen. Aber auch da kann das Geld plötzlich wieder zu Ende sein.
Gibt es dafür Beispiele?
Ja, nehmen wir die Waldforschung. In der Hochzeit der Waldsterbensdiskussion gab es praktisch kein Geld mehr für Waldwachstumsforschung. Die Mainstream-Auffassung ging ja davon aus, dass die Wälder sterben. Man forschte daher vor allem zur Ökologie und zur Biologie im Wald. So wissen wir heute viel mehr über die Bedeutung von Totholz oder über den Schwarzspecht. Wir fanden heraus, dass altersgleiche Kiefern- und Fichten-Reinbestände nicht überall optimal sind – und bauten viele Wälder um. Wir gingen zurück zu den natürlichen Baumarten und zu naturnah strukturierten Wäldern. Aber jetzt wissen wir nicht wirklich, wie diese neuen Wälder wachsen. Nun müssen wir uns wieder um das Holz kümmern, um das Waldwachstum, um eine adäquate Bewirtschaftung. Also plant man ein innovatives Waldforschungsprogramm. Da können sich die Forscher wieder bewerben. Für den Schwarzspecht oder das Totholz, die in den früheren Ausschreibungen Themen waren, gibt es dagegen plötzlich weniger Geld. Das heißt, manche Lehrstühle oder Professuren müssen ihre Forschung stark herunterfahren oder sich, soweit möglich, neu ausrichten. Die Wissenschaft, jedenfalls in Teilen, muss sich wieder auf diese neuen Themen einstellen.
Und mit den neuen Themen muss sie sich auch wieder neu „verkaufen“? Und da kommt dann auch wieder die Öffentlichkeitsarbeit ins Spiel?
Ja, in zweifacher Hinsicht. Einmal fordern die Forschungsprogramme ebenso wie DFG-Projekte, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Ergebnisse nicht nur in begutachteten, wissenschaftlichen Journalen publizieren, sondern auch öffentlichkeitswirksam darlegen. Das heißt, es braucht sowohl Kommunikation innerhalb der Wissenschaft als auch nach außen. Und zudem versucht man sich in der Öffentlichkeit natürlich in möglichst gutem Licht zu präsentieren. Das trifft man ja vielerorts an: in Unternehmen, in der Politik, bei NGOs, in Krankenhäusern. Alle wollen ihre Kompetenz und ihr Profil herausstellen. Und so kommt es zu einseitigen Selbstdarstellungen und zu Hochglanzbroschüren, wie wir sie auch aus der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen kennen. Hier ist eine enorme Entwicklung im Gange. Da gibt es auch Übertreibungen. Damit ist die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft gefährdet; und das ist ein zentrales Problem.
Wissenschaft lebt vom Wettbewerb, vom Wettbewerb um die besten Ideen, um die besten Erkenntnisse und dazu braucht es die wissenschaftliche Auseinandersetzung, im besten Sinne den wissenschaftlichen Streit. Und eben auch die Kenntnis um fehlgeschlagene Experimente und Methoden, die sich als nicht erfolgreich erwiesen. Dieser wichtige Wettstreit in der Sache wird in der eigenen Öffentlichkeitsarbeit in der Regel aber nicht oder nur am Rande thematisiert.
Zweiter Teil – über das wissenschaftlich Sinnvolle und gesellschaftlich Erwünschte