Energiewende: Wo steht Deutschland?
München, 18. März 2024
Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Wenn 2030 bereits 80% des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien gedeckt werden soll, erfordert das einen Umbau des Energiesystems. Im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing und acatech machten am 4. und 5. März rund 60 Teilnehmende die Energiewende zum Thema. Sie diskutierten bisher erreichte Fortschritte und die Potenziale neuer Technologien. Dabei wurde schnell klar: Der Erfolg der Energiewende wird auch davon abhängen, ob Bürgerinnen und Bürger angemessen in Diskurs und Entscheidungsprozesse eingebunden werden.
Nach der Begrüßung durch den stellvertretenden Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, Hendrik Meyer-Magister, griff acatech Präsident Jan Wörner die gesellschaftliche Teilhabe direkt auf: „Die aktive Trägerschaft der Bürgerinnen und Bürger ist ein zentrales Element für den Erfolg der Energiewende“, stellte er fest. Zugleich machte er deutlich, dass die Energiewende eine von zahlreichen, aktuell ausgerufenen Wenden sei, wie beispielsweise Infrastrukturwende oder Mobilitätswende. Die Rahmenbedingungen dafür seien besonders herausfordernd, weil sie alle in Krisenzeiten stattfinden.
Infrastrukturen für den Einsatz der Technologien bereitstellen
acatech Mitglied Dirk Uwe Sauer knüpfte an Jan Wörners Einschätzung an, indem er einen Überblick über den aktuellen Stand der Energiewende gab. Der Professor für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik an der RWTH Aachen bezeichnete die Transformation als drastisch: Es gehe darum, das Energiesystem zu defossilisieren und zukünftig vernetzter zu gestalten. Von „Dekarbonisierung“ zu sprechen sei zu kurz gegriffen, denn Kohlenstoff wird auch weiterhin ein zentrales Element nachhaltigen Wirtschaftens sein.
Strom werde künftig zum Primärenergieträger, aus dem mit großer Effizienz alle weiteren Sektoren bedient werden, erläuterte Sauer: angefangen bei der Wasserstoffproduktion bis hin zum Wärmesektor. Die Bedingungen dafür seien gegeben, funktionierende Technologien wie Photovoltaik, Windkraft, Batterien und Wasserstofferzeugung vorhanden – und auch die Konzepte für die Digitalisierung.
Was es brauche, seien tragfähige Infrastrukturen: beispielsweise Langzeitspeicher, die vor Dunkelflauten schützen, Stromleitungen und auch eine Wasserstoffinfrastruktur. Darüber hinaus sei es entscheidend, die Kreislaufwirtschaft mit einzubeziehen und die Digitalisierung entschlossen umzusetzen. Damit das gelingen kann, müsse auf positive Narrative und aktive Beteiligung gesetzt und auf Populismus verzichtet werden, so Dirk Uwe Sauer.
Von der Polykrise zur Poly-Enttäuschung?
Die Politikwissenschaftler Veith Selk und Jörg Kemmerzell von der TU Darmstadt stellten die Herausforderungen der Energiewende in einen gesellschaftlichen Kontext, der von einer wachsenden Demokratieskepsis gekennzeichnet sei.
Die vorherrschende Polykrise schaffe auch Poly-Enttäuschung bei den Menschen, vor allem in der Mittelschicht. Global betrachtet sei zudem eine Autokratisierungswelle feststellbar: Ohnehin autokratische Systeme würden sich weiter verschärfen, andere erst zu Autokratien entwickeln.
Auch würden neue geopolitische Konflikte die Agenden deutlich verändern. Dazu komme eine zunehmende Polarisierung, die sich beispielsweise in Parteiprogrammen oder Demonstrationen manifestiere. Die Demokratie als institutioneller Rahmen steht demnach in wachsendem Spannungsverhältnis mit den beschleunigten Entwicklungen und dem Zeitdruck, der durch klimapolitische Zielvorgaben entstehe.
Europäischer Strommarkt: nur Kreisstraßen, keine Autobahnen?
Wie kann ein Europäisches Strommarktdesign gestaltet werden? Diese Frage stellte sich Justus Haucap, Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Heinrich-Heine-Universität und acatech Mitglied. Viele Herausforderungen gelte es zu meistern – beispielsweise wie sich Versorgungssicherheit, Preisgünstigkeit und damit auch Wettbewerbssicherheit realisieren lassen.
Einen europäischen Strommarkt gebe es im eigentlichen Sinne nicht, sondern einzelne nationale Märkte. Der Grund dafür läge in den Grenzkuppelstellen zwischen den Ländern, deren Dimensionen für den Austausch großer Energiemengen nicht ausreichten. Seine Einschätzung zu möglichen Handlungsoptionen: Das Verteilnetz sei mittlerweile ein Marktplatz. Viele europäische Staaten verfügten bereits über Modelle, bei denen sowohl Einspeiser als auch Entnehmer Entgelte bezahlen. Die Struktur der Netzentgelte müssten in Richtung Plattformmodell angepasst werden.
Paneldiskussion: Flexibilität im Strommarkt
Den ersten Tagungstag beschloss eine von Marc-Denis Weitze (Leitung Kommunikation Gesellschaft, acatech) moderierte Podiumsdiskussion. Das Podium thematisierte, welche Rolle Flexibilität im Energiesystem der Zukunft spielen wird. Munib Amin (E.ON Energie Deutschland) erklärte, das bewährte Strommarktdesign funktioniere aktuell noch gut, der Ausbau von Flexibilität sei aber auch hier wichtig. Christian Essers (Wacker Chemie) gab Einblicke in den Spielraum stromintensiver Chemieindustrien. Anlagen würden in der Regel nicht größer gebaut als nötig – das begrenze die Möglichkeiten der Flexibilität. Überproduktionen sind – anders als in anderen engerieintensiven Zweigen – prozessbedingt nicht umsetzbar.
Nach Hans Ulrich Buhl (ehemals Lehrstuhl für BWL, Wirtschaftsinformatik, Informations- und Finanzmanagement an der Universität Augsburg) sei besonders die Regulatorik eine Herausforderung, die aus Zeiten der Grundlastkraftwerke stamme. acatech Präsident Jan Wörner veranschaulichte schließlich, dass die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften die diskutierte Flexibilität in der Bearbeitung der Projekte zur Energiewende bereits spiegelt. Als Beispiel dienten die verschiedenen Projektschwerpunkte wie Wasserstoffimporte aus Australien (HySupply), Energiesysteme der Zukunft (ESYS), Industrie 4.0, Mobilität oder Fusionsenergie.
Energiewende und Molekülwende für die Transformation
Der zweite Tag stellte Wasserstoff und Kernfusion als exemplarische Zukunftstechnologen ins Zentrum der Diskussion. Die zukünftige Bedeutung von Wasserstoff illustrierte Frithjof Staiß (Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Stuttgart) anhand der Tatsache, dass mittlerweile nahezu jedes Land über eine eigene Wasserstoff-Strategie verfüge.
Die Motive dafür variierten jedoch – viele der Strategien seien stark getrieben von Wertschöpfung, Arbeitsplatzgewinn und Zukunftssicherung. Noch sei das Marktvolumen der Wasserstoffmärkte vergleichsweise klein, was sich aber bald ändern werde. Für den Aufbau der Strukturen müsste ein erheblicher Investitionsimpuls kommen, um die benötigten industriellen Produktionskapazitäten zu erreichen.
Die industrielle Perspektive führte Delia Stelzer von der Gunvor Raffinerie Ingolstadt weiter aus. Sie zeigte auf, dass Wasserstoff in industriellen Prozessen längst eine Rolle spielt – etwa in Raffinereien. Zukünftig könne hier grüner Wasserstoff einen Platz finden.
Das Beispiel HyPipe Bavaria – ein Projekt, das den Grundstein für ein Bayerisches Wasserstoffnetz legen soll – zeige, wie entschlossen das Thema vorangetrieben wird. Dies könne zudem der Startschuss zu einem regionalen Wasserstoff-Ökosystem werden. Transformation, so schloss Delia Stelzer, entstehe aus Energiewende plus Molekülwende – also dem Wechsel von Molekülen auf Basis von Kohle, Öl und Erdgas zu „grünen“ Molekülen.
Fusion – eine Technologie mit langem Atem rückt zunehmend in Investorenfokus
Wie Kernfusion eine Antwort auf den stark wachsenden globalen Energiebedarf sein kann, das führte Frank Jenko, Leiter des Bereichs Tokamaktheorie am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik Garching aus. Bei Fusion handelt es sich um eine Nuklearenergie wie die Kernspaltung, die im Vergleich zu dieser aber zahlreiche Vorteile aufweist.
Abhängigkeiten könnten vermieden werden, da beispielsweise das Ausgangsmaterial Deuterium nahezu unbegrenzt verfügbar sei. Zudem, so führte Jenko aus, erzeugten Fusionskraftwerke auch keinen langlebigen radioaktiven Abfall oder Treibhausgase.
In der Vergangenheit habe man die Förderung der Fusionstechnologie zu zaghaft betrieben. Ein sich rasch entwickelndes Start-up-Ökosystem zeige aber die wachsenden privaten Förderungen, die vielversprechende Entwicklungen ermöglichten.
Die Perspektive dieser Start-ups konkretisierte Milena Roveda am Bespiel von Gauss Fusion. Bisher sei die Fusionstechnologie in öffentlicher Hand gewesen, jetzt stiegen die Investoren ein. Die große Stunde der Fusionstechnologie erwartet sie für die zweite Hälfte des Jahrhunderts.
Dafür jedoch müssten schon heute die Weichen gestellt werden. Momentan seien rund 140 Akteure im Markt aktiv, was sich aber konsolidieren werde: So seien in naher Zukunft Zusammenschlüsse zu erwarten. Ihre Prognose für das Potenzial im europäischen Fusionsmarkt bezifferte sie mit 100 bis 200 Fusionskraftwerken.
Optionen vs. Leitplanken
An der Schlussdiskussion unter der Moderation von Stephan Schleissing, Leiter des Programmbereichs „Ethik in Technik und Naturwissenschaften“ am Institut TTN an der Ludwig-Maximilians-Universität München beteiligten sich zahlreiche Teilnehmer. Sie thematisierten die gesellschaftliche Akzeptanz für die Energiewende und wie sie erreicht werden kann. Häufig werde die Energiewende einhergehend mit herausfordernden Zukunftsaussichten als unfair wahrgenommen.
Auf der einen Seite läge die Kunst darin, die Ziele ohne Zwänge zu erreichen: Verschiedene Optionen im Energiesystem könnten angeboten werden, die Menschen sollten die Entscheidung selbst treffen. Andererseits erforderten große infrastrukturelle Weichenstellungen die Leitplanken von Wissenschaft und Politik. Inwieweit dieses Zusammenspiel gelingt, wird man in einigen Jahren beurteilen können.